Montag, 6. Dezember 2010

Von Mir

Ich gönne ihr eine Pause. Unter uns: sie hat sie bitter nötig. Sie nimmt kein Ende. Kein Ende heißt auch: kein gutes Ende. Darum lieben wir Filme und Bücher, wegen der Enden, die doch gar keine sind.

Auch ich nehme kein Ende. Meine Welt (der sie entsprungen ist) überschüttet und erstickt mich mit Weiß. Seit über einer Woche –

ist es tatsächlich erst eine Woche? Es erscheint mir länger. Wer auch immer die Zeit definiert hat ist sehr nachlässig gewesen, es fehlen Ereignisse, es fehlen Gefühle in der Zeit und irgendwann, wenn ich einmal Zeit finde, will ich die Zeit neu definieren. Nicht heute.
Heute will ich hauptsächlich schlafen.


sitze ich an verschiedenen deutschen oder britischen Flughäfen und Bahnhöfen fest. Ich warte. Ich funktioniere auch. Manchmal höre ich kurz auf zu funktionieren. Dann kommt jemand und repariert mich. Zum Beispiel der alte Bahnbeamte aus Glasgow, der mir in Manchester kostenlos meinen Zug umbucht, weil ich so einen sympathischen Akzent habe. Oder meine Mitbewohnerin, die die Kamera holt, weil ich so schön aussehe, wenn ich weine. Oder sie, die schweigend und wütend neben mir im Bett liegt, mir eine Packung Taschentücher gibt und mir stoisch vorlebt, wie man funktioniert.

Andere sind weniger hilfreich. Doch zum Glück versinken auch sie in dem Weiß, auf das die Menschen hier so überhaupt nicht vorbereitet zu sein scheinen, und werden still. Still wie Schnee. Das Chaos packt die vielen kleinen Welten, die nebeneinander und ineinander und durcheinander existieren und sich an einander reiben, wirft sie in die Luft und presst sie alle in einen Raum. Und wartet. Und betrachtet. Und lacht – ja, ganz bestimmt lacht es. Ich höre es doch in dem Knirschen der Stiefel und dem Stöhnen der Massen.

Auch ich habe über all das Warten angefangen zu betrachten. Ich bin, gelinde gesagt, pikiert. Aber vielleicht eines Tages, wenn das alles irgendeine Art von Ende gefunden hat, wenn ich die Zeit neu definiert habe, vielleicht lache ich dann auch.

“That which does not kill us makes us stronger.“
“You’ll be the Hulk.”
So gehört in Two and a Half Men auf einem unverhofften Flug aus Singapur über München nach Manchester. Und tatsächlich ein bisschen gelächelt.


Dinge verzerrt
wie auf einem Video
ausgestreckt und gepresst
im falschen Raum

Etwas woanders
weit
weg

Ferne neu definiert

Wenig festzuhalten
tatsächlich

Montag, 29. November 2010

Von den Worten

Jetzt: Gold


Und dann, nach und nach, verstummt sie.
Es ist nicht so, als kämen keine Laute mehr über ihre Lippen, vielmehr wird alles, was sie sagt, reine Reaktion. Einem dressierten Tier gleich läuft sie durch das wankelmütige München und lächelt, nickt, sagt ja, sagt nein, stöhnt, seufzt, lacht und weint an den jeweils angemessenen Stellen. Manchmal vertut sie sich ein wenig doch das fällt selten auf, schließlich erzählt sie jedem gewissenhaft, dass sie in letzter Zeit „ein wenig zerstreut“ ist. Und es stimmt: jeder Laut, den sie verursachte, springt in tausendfachem Echo in ihrer Leere hin und her und lässt sie schaudern.
Die Leere, das Neue, das Unbeschriebene, dem sie frische Tinte aufzwingen wollte, hat selbst die hartnäckigste Druckerschwärze abgewiesen und frisst sich langsam durch ihre Organe.

Natürlich gibt es auch die, die versuchen, sie aufzusammeln und neu zusammenzusetzen. Doch dies sind Scherben, die Körperflüssigkeiten oder Eiscreme nicht zusammenfügen können. Ihre zaghaften Erklärungsansätze bei besonders warmen Rettungsversuchen verhallen in dem Weiß, das ihr aus dem Mund und aus der Nase kriecht und sich wie eine Taucherglocke um ihren Kopf gelegt hat.

Manchmal geht ein Beben durch sie und sie sieht für wenige Sekunden eine Liste von Dingen, die ihr Körper verlangte. Dann verstummen ihre Sinne wieder.


Die Ideen liegen in ihr
wie überreife Früchte.

Ihre Zunge hat noch nie
ein Wort gekostet.

Du aber kannst
Samenkapseln pflücken
von den Seufzern ihrer
stummen Lippen.

Du musst
sie sammeln
aus ihren geschwätzigen Händen

du sollst
sie suchen
im Rhythmus ihrer Schritte.

Decke sie zu
mit Buchstabenerde
und ihrer Geduld.







Damals: Silber


Nach der überstürzten Ankunft und den langen Pariser Nächten schlug sie hart auf dem herbstfrostigen Boden Frankreichs auf. Ein Gefühl nicht ganz unähnlich dem, das sie Anfang diesen Sommers überfallen hatte, schlich sich in ihr Leben. Der Unterschied war nur, dass dieses Leben damals so übervoll war und sie einen blanken Punkt vergeblich suchen musste. Es war nicht einmal Raum für ein neues Wort.

Es sollte wieder einmal die Andere sein, die für ein paar Tage zu ihr fuhr und ihr Windschatten im Herbststurm bot. Sie räumte gewissenhaft das Chaos, das in ihr herrschte auf, faltete, stapelte, verpackte in Kisten und verstaute diese. Sie machte die Sicht frei und deutete.
Auf den morgendlichen Nebel, der sich träge aus dem grauen Gras erhob. Auf den Feigenbaum, der sich zwischen die Walnussbäume geduckt hatte. Auf die Chocolaterie, die mit jedem Espresso eine kleine Praline zur Probe anbot. Auf die sterbenden Sonnenblumen.

Als ihr die Tränen in die Augen stiegen, packte die Freundin sie fest bei der Hand und rief: „Jetzt gilt’s!“ Und sie rannten blind in das Feld voller Leichen.


Und wieder
hat mich diese Frau
mit ihren starken Armen
in meine Welt geworfen
(die ich ihn zeigen wollte),
hat mich in ein Feld voller
toter Sonnenblumen geworfen
und gesagt:
„Wer bräuchte denn da noch
das Schweigen?“

Sie hat mir einen Umhang umgelegt,
der nach Mandeln riecht,
und gesagt:
„Jetzt kommt die Jahreszeit, in der dein Atem
die Welt ohnehin aussperrt –
du kannst die Fäuste herunternehmen.“

Und als sie wieder ging
hat sie nur gesagt:
„Wenn ich deinen Kopf jetzt loslasse,
lass ihn nicht fallen.“

Da waren ihre breiten Schultern,
da war ihr roter Mantel in der Ferne,
da war ich wieder allein.

Aber mein Schweigen liegt gut
bei den toten Sonnenblumen.

Donnerstag, 11. November 2010

leben über menschen

Jetzt: Überleben


Sie hält eine leere Kaffeetasse umklammert. Ihre Wohnung ist im ersten Herbststurm abgekühlt, sie scheint es nicht zu merken. Ihr Körper merkt es, jeder einzelne Muskel ist gespannt. Sie ist ein Tier mit geweiteten Pupillen, bereit zum Sprung.
Wohin läuft man auf der Flucht vor etwas, das einem auf Schritt und Tritt folgt? Man läuft nicht. Man bleibt stehen. Man wird zu etwas anderem, zu einem Wesen, dem sein Schatten gleichgültig ist. Das keinen Schatten kennt. Ein Tier mit geweiteten Pupillen vielleicht. Oder ein Stück Holz.
Am schönsten vielleicht noch – eine Statue. Damit der Rest der Welt nichts bemerkt und man sie weiter betrachten kann. (Bitte nicht anfassen.)

Sie unterteilt ihre freie Zeit in Abschnitte, die alle ziemlich genau eine Stunde dauern (wahlweise eine Die Drei ??? Kassette oder ein Kapitel aus Jenseits von Gut und Böse). Sie geht zur Arbeit. Sie isst. Tatsächlich isst sie ziemlich viel in letzter Zeit, nun, im Grunde kocht sie einfach nur ziemlich viel in letzter Zeit. Diese ungewohnten Handbewegungen, die neuen Geschmackserlebnisse, nichts davon könnte irgendwelche Erinnerungen wachrufen. Es beginnt mit den Muscheln, die sie in Brügge gegessen hat. Dann kocht sie sich beständig durch den restlichen Blog.

Sie kocht auch für andere, die kommen und essen und betrachten die Statue. (Bitte nicht anfassen.)
Auch heute Abend hat sie Menschen eingeladen, die lange über seltsam wächsern aussehenden Artischocken schweigen. „Das in der Mitte, das muss man rausschneiden, das ist ungenießbar“, will einer wissen. „Das Herz, das ist das Beste. Warum man sich diese Mühe mit all den Blättern und Schichten, an denen doch fast nichts dran ist, machen soll, verstehe ich wirklich nicht…“ erläutert ein anderer.
Nun merkt sie doch, wie kalt es geworden ist.
Und in ihr hebt zaghaft ein Wunsch den Kopf: einen der beiden Weisen zu fragen, ob er sie heute Abend anfassen möchte.


Ich trage meine Nacht
überall.

Vorgestern besuchte mich
ein hartes Feuer.
Es spuckte wie ein Vulkan,
es kreischte
brennende Sätze.

Leichen leuchten
nur grün im Dunkeln –
ich mache mir Kerzen
aus ihren Schlüsselbeinen.

Das Schwarz
kann mich nicht beißen
mit meinem schreienden Feuer
mit meinen Totenkerzen
und wenn alles verglimmt
suche ich
Menschen.

Nichts schimmert so schön
wie lebendige Haut.




Damals: Übermenschen


In einem der seltenen Momente in denen sie die Ahnung, dass Cat sie bald verlassen würde, in ihr Herz ließ, fragte sie widerwillig und mit schwerer Zunge, warum sie sie mitgenommen hatte.
Die Blonde antwortete ohne zu zögern. Weil ich mich nicht mag, sagte sie, und du lenkst mich ein wenig von mir ab.

Der Alkohol und der Zweifel, ob die dieses Mädchen liebte oder nur selbst so geliebt werden wollte, wie sie dieses Mädchen liebte, tanzten Walzer in ihrem Kopf. Sie wippte ihren Fuß im Takt der Musik und setzte konzentriert das, was Cat ihr gesagt hatte, mit ihrem Zweifel zusammen wie ein Puzzle. Sie erhielt eine Erkenntnis, die ihr im kommenden Jahr viel hätte ersparen können, wenn da nicht plötzlich der Alkohol die Musik aufgedreht und auf Rock’n’Roll gewechselt hätte, sodass sie sich am nächsten Morgen an nichts von alldem mehr erinnerte.


Leih mir für einen Moment
deine Augen
damit ich mich wohlwollend
betrachten kann

Wenn man nur sieht
was man sehen möchte
bin ich rot-grün-blind

Ich will
gut sein
nicht für dich
einfach nur weil
ich ein wenig Liebe brauche
von jemandem
der mir näher ist
als du

Darum
verzeih mir
die Lüge
ich liebe dich nicht
und sei
gut

Samstag, 23. Oktober 2010

Das Versteck

Sie und er und all die anderen Menschen, die in mir wohnen, holen kurz Luft.
Bitte habt Geduld.



Warum auch nicht
Hölderlin spielen
in luftigen Papiertürmen

mit Fenstern
die mir Meer zeigen
wo Augen sind

Ich werde schon lang nicht mehr
trunken
vom Küssen
es braucht mehr und
ich bin auch schon lang nicht mehr
heilignüchtern
ich brauche mehr aber

nun
inmitten von luftig sich türmendem Papier -
ich raschele in mich hinein
und notiere:
Einsamkeit wird unterschätzt.

Montag, 30. August 2010

Poesie

Jetzt: Senkung


Sie steigt aus dem Zug. Der Alltag hat sie schon am Gleis erwartet. Er stürzt auf sie zu. Er fällt ihr um den Hals. Er verbeißt sich in ihren Nacken.

Sie gehört nicht zu den Menschen, die nicht allein sein können. Im Gegenteil, Gesellschaft, vor allem die permanente Gesellschaft einer einzelnen Person, ist ihr oft lästig oder unangenehm. Doch gerade heute, auf dem Weg zu ihrer Wohnung wird ihr schwindelig bei der Aussicht auf einen ganzen Tag allein unter ihrer Glasglocke – knapp vierundzwanzig Stunden bevor sie wieder einer sinnvollen Beschäftigung, ihrer Arbeit, nachgehen und einigen völlig sinnfremden Unterhaltungen beitreten kann.

Die Wände der Glasglocke werfen Echos hin und her, der leere Raum wird zur Bühne für ihre Gedanken. Gedanken an ihr neues Leben, das innerhalb von wenigen Wochen zu ihrem alten Leben wurde. In dem sie verloren in einem Wald von Flaschen aller Art, Form und Farbe umherirrt und sich zitternd an Körpern wärmt. In dem es keine Moral, keine Werte gibt, die sie an der Hand nehmen und führen. In dem Nietzsche ihr zuflüstert, dass sie nichts falsch macht, nichts falsch machen kann.
Die Leere zwischen den Beinen ihres neuen Körpers wurde gefüllt. Sie hat sich in ihrem alten Leben verlaufen.

Zuhause angekommen öffnet sie einen Gedichtband von Carol Ann Duffy und einen Wein, den sie in Brügge gekauft hat. Sofort wird sie ruhiger. Wenn man Momente konservieren könnte, denkt sie. Zwischen Buchseiten gepresst oder in Alkohol eingelegt. Für die Ewigkeit.


Heute will ich
dir nur ganz sanft
die Hand auflegen
und dir zuflüstern
bis du mit einem Seufzer
und aufhörst zu schlagen
mein Herz

Heute war ein Regen
mein Herz
Mohnblumen starben
mein Herz
ich sah sie
mit ihren gebrochenen Hälsen
mit ihren zerfetzten Pergamentblüten
rote Feen mit verrenkten Gliedern

Vielleicht wird ein Regen kommen
der dich bleich wäscht
mein Herz

Heute will ich
dich ganz vorsichtig
in den Schlaf singen
und lächeln
weil du nicht einmal weißt
dass du einen Schatten hast
weil du dich erschrickst
vor diesem unbekannten Schatten
und wenn es still wird
lege ich dich zwischen
Buchseiten
mein Herz
ich bewahre dich
für immer




Damals: Hebung


Der Ire war bald vergessen. Es gab genug zu entdecken in ihrem Leben, das ohnehin zum Überlaufen gefüllt war mit Sonnenstrahlen, die sich in ihrem Wald von Flaschen aller Art, Form und Farbe verfingen und brachen und sie ins Unterholz lockten. In dem Nietzsche ihr zuflüstert, dass sie nichts falsch machte, nichts falsch machen konnte.

Es gab die Momente (die sie, ganz nebenbei, nicht konservieren wollte) in denen sie sich gedankenverloren an einer Glasscherbe schnitt. Die Momente, in denen ein Regen fiel wie der, in dem sie damals ihr Fahrrad heimgefahren hatte. Oder in denen die Musik gespielt wurde, die sie gehört hatte als sie sich nachts aus seiner Wohnung gestohlen und heim gelaufen war.
Doch diese Schnitte behandelte sie mit Rae Armantrout und sie heilten schnell. Und es ging weiter.


Lieben lieben lieben
durch die Nacht durch den Tag durch die Nacht

Schweißperlen
Schnecken
kriechen träge über meine Haut

trocknen
klebrige Spuren
Salzkristalle

Grabsteine
einer Leidenschaft

Am Ende
bleibt nur
ganz still und heimlich
das vergessene Fahrrad
abzuholen
und heimzufahren
im Regen

Leben leben leben
den nächsten Tag die nächste Nacht das und so weiter

Samstag, 21. August 2010

Weiterspielen

Damals: Verlieren

Der Wolf schlich sich aus ihrem Leben. (Das war erst vorgestern, doch es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.)
Nachdem die letzten Tropfen ihres Blutes aufgeleckt, die letzten Tränen getrunken waren, verschwand er so ruhig und gelassen, wie er erschienen war. Sie saß fassungslos in dem zerwühlten Doppelbett, das sie in den letzten Tagen kaum verlassen hatte, und sah ihn stumm an.

Ihre geweiteten Pupillen sahen aus wie Bojen, die verloren im Meer tanzten, dachte er. Doch das sagte er nicht. Er sagte: „Ich komme am späten Nachmittag wieder. Bitte geh bis dahin.“

Deutsch ist eine harte Sprache, dachte sie. So konkret. So genau. Doch das sagte sie nicht. Sie sagte gar nichts. Sie verfolgte ihn mit ihren Augen, in denen Bojen tanzten, und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, rissen sie sich los und schwammen davon.

Vierundzwanzig Stunden lang kreisten ihre einsamen Gedanken um die deutsche Sprache und um graue Wölfe. Sie aß zu wenig und trank zu viel. Dann sah sie in den Spiegel.
Von dort starrte sie ein abgemagertes Mädchen mit tiefschwarzen Ringen unter den Augen an. Sie sah genau hin. Doch da waren kein Engländer und kein Zwilling.

Der Wolf hatte sie alle gefressen.

Sie war allein.

Sie atmete tief ein, strich sich über die langen Haare, über die nackten Schultern, und zog sich für die Arbeit an.


Wie es sich anfühlt,
mit dem Abend allein zu sein
und sich langsam
sich selbst anzuvertrauen?

Du wirst lernen
wie eine Mango schmeckt,
wenn du sie ganz allein isst,
und Whisky,
wenn du ihn nicht
von fremden Lippen leckst.

Verbrenne alle Kerzen
und hüte dich
vor Spiegeln im Licht.

Nichts ist klarer und kälter
als eine einsame Nacht
nach Tagen
voller Ja
und Immer.

Am Ende sagen alle,
dass Ehrlichkeit
der blanke Wahnsinn ist
und du wirst dich fragen,
ob du nicht doch wieder
Lügen sammeln willst,
um dein Bett zu polstern,
denn du teilst es mit allen,
nur nie mit dem Schlaf.

Entzünde alle Kerzen
und schlafe mit deinem Spiegelbild.

So fühlt es sich an:
wie Kreise
im Nichts.



Heute: Finden

Am nächsten Morgen macht sie einen kurzen Anruf (Herzrasen), bucht einen Zug für denselben Tag und gibt ihrer Freundin Bescheid, dass sie für zwei Tage verreist. „Zu deinem Ehemann?“ fragt diese nur. Und sie antwortet: „Ich brauche ein bisschen Märchen.“

Sie packt, steigt in den Zug, steigt in Paris um, steigt aus. Es ist Abend.
Sie nimmt den Bus, die Schnellstraße (die nie vermuten lässt, dass man mitten hinein in ein Märchen fährt) entlang, die winzigen Gässchen und Kanäle hindurch.
Die Straßenbeleuchtung ist noch nicht an, es ist noch hell und sogar warm. Sie war noch nie im Sommer in Brügge gewesen.

An einem schmalen hohen beigen Haus hält sie an. Sie klingelt und nimmt die Treppe in den dritten Stock. Im Treppenhaus, dessen durchgetretene, knarzende Holzstufen ihr vertrauter sind als die in ihrem Haus in München, riecht sie es bereits: Muscheln.

Sie betritt die winzige Studentenwohnung als hätte es die letzten vier Monate nicht gegeben, fährt dem jungen Mann, der am Herd steht, durch die Haare, und wirft ihr Gepäck in eine Ecke. „So darling, make yourself at home and tell me all about him. The last time it was a silly little Englishman as far as I remember, how did that end?”

Sie lächelt. Wie viel schöner Englisch klingt, und noch dazu aus dem unbeholfenen Mund eines Belgiers. Ihres „Ehemanns“, wie ihre Freundin ihn nannte. Es ist wahr, dass er einer der wenigen Männer war, die sich über mehrere Jahre hinweg in ihrem Leben halten konnte, doch Sex hatten sie seit ihrer ersten überstürzten Nacht nie wieder gehabt. Einer der Gründe, warum sie stets zu ihm zurückkam, um sich zu erholen.

“First things first sweetheart, I’m absolutely starving but I’ll tell you everything after dinner.“
“As you wish”, antwortete er und sie musste ein Lachen unterdrücken.

Ein Tag in Brügge, ein Tag im Märchen, dachte sie, und schob alle Gedanken an München, die Arbeit, den Wolf, das Danach, von sich.


Ein Tag
in der doppelten Stadt
mit ihren goldenen Mauern
und ihren kristallenen Zwillingen
in den Kanälen

Ein Tag
im sanften Auf und Nieder der Wellen
du schläfst nicht
du bist nur betrunken
von all den Herzen
die du ausgesaugt hast
du schläfst nicht
du atmest all die Sprachen ein
die Zeit zählt hier nichts mehr
sie ist ein sanftes Auf und Nieder
dein Herzschlag zählt nichts mehr
deine Gedanken haben hier
kristallene Zwillinge
in den Kanälen

Das heilige Blut
läuft über deine Lippen
beim Lachen und Schluchzen
die Sprachen sitzen bequem
in deinen Lungen und Ohren
die Einsamkeit gibt es hier nicht mehr
sie versteckt sich hinter Spiegeln
in der doppelten Stadt
für einen Tag
Alle Augen hier deine alle
sind gold gold gold
und sie sehen
kristallklar

Dienstag, 10. August 2010

Spiele

Damals: Höher

Sie war vorsichtiger geworden mit ihren Liebschaften. Auch, wenn das für den geneigten Betrachter nicht so aussehen mochte. Die zahllosen gebrochenen Männeraugen, die eingehenden Anrufe, die entsetzlichen Momente des unverhofften Wiedersehens, die vorwurfsvollen Blicke ihrer Freunde hatten sie ermahnt, dem Spiel etwas mehr Bedeutung zuzugestehen, als sie es bisher getan hatte.

(Nicht zu vergessen, auch wenn sie das nie zugeben würde, der Ire. Und daraus resultierend: ihre gebrochenen Augen im Spiegel, die ausgehenden Anrufe, die entsetzlichen Momente des unverhofften Wiedersehens, die mitleidvollen Blicke ihrer Freunde. Kant schickt seine Hochachtung.)

Gegen Ende ihres Aufenthalts in Schottland erkannte sie ihre Macht und eine Verantwortung, derer sie sich davor nicht völlig bewusst gewesen war. Doch sie sollte nicht nur die richtigen Schlüsse aus dieser Erkenntnis ziehen, denn ihre plötzliche Milde, die Vorsicht, mit der sie nun ihren wechselnden Liebschaften begegnete, war begleitet von Stolz. Dieser Hochmut war es, der ihr nach Schottland jeden Fall nur noch schwerer machen sollte.

(Und Frankreich sollte sie das Fallen lehren. Der richtige Zwilling sollte es perfektionieren. Sie sollte sich nach jedem Fall in noch unerreichbarere Höhen aufschwingen. Bis ihr eine Frau in einem weißen Kittel in einem weißen Raum an einem weißen Tag die Flügel stutzen sollte.
Ihre Renaissance.)


Ich schiebe eine Finsternis vor mir her.
Jeder verirrt sich in ihr.
Man verwechselt mich mit Licht.

Meine Stimme klingt
wie zerbrechende Tongefäße
(niemand wird um acht Uhr morgens
Kaffee aus ihnen trinken).

Mein Herzschlag ist Sturm
(eure Boote sind nie sicher).

Ich öffne deinen Kopf
und säe Fernweh.

Es wird keimen
sobald du in die Sonne stolperst
und Luft holst.



Heute: Tiefer

Die Tage verschwimmen.

Die Nächte werden klarer und reiner. Sie sind beherrscht von den gleichgültig lächelnden Augen des richtigen Zwillings und den gereizt fordernden Augen des falschen Zwillings. So leicht, sie zu unterscheiden.

Die Blicke der Beiden umkreisen sie wie Schäferhunde und treiben sie hierhin und dorthin. Sie ist ein Lamm, verloren in der Dunkelheit, schwankend und mit unsicherem Tritt hastend, fort von ihren dunklen Bewachern.
Sie verirrt sich in fremden Wohnungen und Betten. Sie blutet. (Doch das ist normal, sagt die Ärztin.) Das Blut klebt an ihr, immer, die Männer können es riechen. Die Hunde können es riechen.

Sie sitzt zusammengekauert in der Ecke, in der vor einigen Nächten der Betrunkene saß, und hält still. Irgendwo am anderen Ende des Raumes lauert ein paar dunkler Augen unter ergrauten Brauen. Sie kommen näher. Silberbart setzt sich zu ihr und sie sinkt dankbar an seine Schulter.

(Der Wolf wird gelassen verschmähen, die Hunde zu reißen. Er wird sie nur zu sich nehmen, sie wird sich zu ihm flüchten. Sie wird ihn ihre Wunden lecken lassen. Er wird genüsslich ihr Blut trinken.
Sie wird heilen.)


Irgendwo
in dieser schwarzen tropischen Hitze,
mit ihrer Luft,
die schwerer wiegt
als ein Körper,
mit ihren beißenden,
vertrauten Gerüchen -

Irgendwo dort
liegen wir.
Meine Beine geöffnet
wie ein Auge.

Raubkatzenauge,
lauerndes.

Vielleicht
ist dieses Gefühl im Magen
nur deine Hand,
die meine Eingeweide streichelt
und langsam tiefer wandert.

Bestimmt
ist dieses Pochen im Kopf
nur die Fülle an Namen,
die du mir im Schlaf gibst.

Ich weiß doch:
man soll
schlafende Wölfe wecken.

Und schon

sucht meine gierige Lammzunge
Milch.

Freitag, 6. August 2010

Was Hilft

Jetzt: Weggehen

Das neue Leben verschwimmt vor ihren Augen, mit jeden Schluck Bier wird es undeutlicher. Da ist wieder der Weichzeichner, der sich so gnädig über Lichter und Geräusche legt und ihr ein seliges Lächeln aufs Gesicht malt. Den sie so vermisst hat in ihrem neuen Leben. Den sie so gefürchtet hat in ihrem alten Leben.

("Sucht: das triebhafte, durch Vernunftgründe nicht einzudämmende Begehren, sich Lust zu verschaffen (Unlust zu vertreiben); das Bestreben, das Lusterlebnis zu wiederholen, sobald die Wirkung des vorangegangenen nachzulassen beginnt; die Neigung, diesem Lustgewinn den obersten Rang einzuräumen, ihm alle anderen Lebensziele unterzuordnen. Kein Mensch ist hiernach völlig frei von S." Der große Brockhaus, Elfter Band, Sechzehnte Auflage, F. A. Brockhaus Wiesbaden, 1957)

Sie ist noch nicht allzu betrunken, doch das Lächeln des falschen Zwillings ist ein Sog in dem schlecht beleuchteten Pub, sie fragt sich ob sich wohl gerade ihr Gesicht ablöst, ob ihre Augen zuerst geschluckt werden von diesem Strudel, ob er an ihren Haaren zieht und sie schließlich gänzlich einsaugt, Kopf voran –

„Welcher ist das?“ fragt ihre Freundin nun, und sie sagt nur: „Der Falsche.“ „Schade. Beziehungsweise egal. Der Richtige steht ja eh nicht auf dich. Und außer dir sieht keiner einen Unterschied zwischen den beiden.“

Prompt kommt er hinter der Bar hervor und auf die beiden Mädchen zu, um sie zu begrüßen. Mit: „Long time no see!“ und zwei Bier. Sie setzen sich an einen Tisch unweit der Bar, und während ihre Freundin völlig untypisch sofort mit ihren Tischnachbarn spricht versucht sie, den Blicken des falschen Zwillings auszuweichen. Das Bier hilft ihr. Es macht sie biegsam wie Gras, ihr Körper tanzt um die Blicke, die er ihr schickt, herum.

Wird sie angesprochen, so behauptet sie ihr Name sei Cat und sie sei Französin, nein, ich spreche kein Englisch oder Deutsch, desolée. Als ihre Freundin ihre Drohung wahr macht und mit einem der Männer verschwindet bleibt ihr nur ein Betrunkener, den sie beobachtet und der allein in einer Ecke sitzt, mit konzentriertem Gesichtsausdruck ein Pint nach dem anderen leerend. Seine schulterlangen Haare kleben ihm im Mundwinkel und hängen in seinen Bartstoppeln, knapp unter der Krempe des ehemals weißen Cowboyhuts ziehen sich buschige Augenbrauen bei jedem Schluck streng zusammen und lassen ihn noch ein wenig wilder aussehen. Die schmutzigen Hände umklammern das Glas.

Sie sieht es nun auch: das Glas ist der einzige Gegenstand im Raum, der sich nicht dreht. Oder anders: der gesamte Raum dreht sich um dieses Glas. Sie widersteht der Versuchung, zu ihm zu gehen und ihre Hände auf die seinen zu legen um teilzuhaben an diesem einzigen Anker in ihrer Welt, vielleicht würde sie dann seine Augenfarbe sehen, bestimmt wären sie blau, denn dieser ganze Raum hier war schon lange nichts als Meer und ihre Augen, die den ganzen Abend nichts als bernsteinfarbene Flüssigkeit gesehen hatten, bettelten um etwas blaues, um etwas Wahrheit.
Kurz bevor sie aufstehen und zu ihm gehen kann finden ihre Finger ihren ganz persönlichen Anker in ihrer Tasche, ohne den sie nie aus dem Haus gehen würde: ein Buch. Die Buchstaben tanzen vor ihren Augen. Sie liest (Ce qui est perdu) und entlässt den Betrunkenen aus ihren Gedanken.


Seine Augen,
die nichts mehr halten,
tasten vielleicht gerade
meine Seele ab.

Ich liebe
sein ewig gleiches Lächeln,
ich liebe
die Möglichkeit: er als Mensch.

Seine fremden Hände,
die das Glas umklammert halten,
werden zu Vertrauten,
die jeden Winkel meines Körpers kennen.

Sein Körper, längst zu schwer
für seinen Willen,
wird mein
in der einsamen Gier
hinter meinen Pupillen.



Später: Heimkommen

Sie wird noch ein Glas Wasser trinken und über drei Stunden durch die nächtliche Stadt laufen.
(Einmal um die Frauenkirche, Richtung Sendlinger Tor, durch das Glockenbach, quer durch das Tal, die Maximiliansstraße, zum Friedensengel, über die Prinzregentenstraße – am Käfer kurz stehenbleiben, zum Prinzregentenplatz – vors Theater setzen, zurück zum Max Weber Platz, Wiener Platz – im nächtlichen geschlossenen Biergarten sitzen, dann heim.)

Sie wird nüchtern ankommen, mit zitternden Händen noch ein Glas Wasser trinken, dankbar, dankbar, dankbar, dass sie einem Mann mit Cowboyhut nicht auch eines anbieten muss. Sie wird sich schwören, nie wieder etwas anderes als ein Buch als Anker in ihre Leben zu lassen.

("Versprechen: 1) rechtlich die Zusage einer künftigen Leistung. Das V. wird erst durch die Annahme bindend (außer bei der Auslobung); 2) im Unterschied zu organisch bedingten Sprachfehlern ein oft als Fehlhandlung zu deutender Sprachfehler." Der große Brockhaus, Zwölfter Band, Sechzehnte Auflage, F. A. Brockhaus Wiesbaden, 1957).

Sie wird sich nicht glauben. (Allein schon, weil sie es satt hat, immer alles zweimal lesen zu müssen.)


Die Stille
konnte das Harte in mir
nicht zermahlen.

Der Alkohol
konnte das Schwere in mir
nicht auflösen.

Ich
kann nicht teilen,
doch wenn nichts hilft
will ich üben,
will ich es irgendwem
in zarte, blasse Hände legen,
Stück für Stück.
Mit meinem Kopf
müsste ich anfangen.

Am Ende
wird die Rastlosigkeit verblassen
und alles ohne Lieder enden.

Bis dahin
sammle ich meine Tränen
um mit ihnen
an langen Winterabenden
heiße Suppe
zu salzen.

Und vielleicht ist das
das Einzige,
was hilft.

Montag, 2. August 2010

Vom Fallen

Heute: Fallen

Sie liest die Nachricht. Sie antwortet. Sie macht sich direkt auf den Weg zu ihrer Freundin.
Wenig später sitzt sie ihr gegenüber, auf dem großen Himmelbett, und fährt ihr mit dem Daumen zärtlich um die geröteten Augenlider. Sonst berühren sie sich nicht (sie sind keine körperbetonten Menschen). Die Schluchzer der Freundin durchbrechen die Stille. Sonst sprechen sie nicht (sie sind keine redseligen Menschen).

Schließlich steht sie auf und geht zum DVD Regal. Lange steht sie davor. Pretty Woman, Tatsächlich Liebe, Frühstück bei Tiffany. Dann sagt sie: „Gib es zu, du willst diese Filme genauso wenig sehen wie ich, du freust dich nur über die seelischen Schäden, die du mir damit jedes Mal zufügst.“ „Ich habe nie etwas anderes behauptet. Außerdem haben wir beide was davon: ich vergesse über meine Schadenfreude für kurze Zeit meine Probleme, und du würdest nie erfahren, was Leid ist, wenn ich dich nicht hin und wieder daran erinnern würde.“

Sie wählt einige Liebesfilme, die sie weniger unerträglich findet als die anderen und schweigt dabei. Ihre Freundin musste seit Samstag Abend allein so dagesessen und geweint haben. Sie bewundert das. Die Schleusen öffnen und reißende Fluten fließen lassen, denkt sie. Sich für ein paar Stunden lang hinreißen lassen, in diesen Strom fallen und ertrinken. Und dann wieder auftauchen. Sie selbst kennt nur Rinnsale, Tropfen aus Quellen, die zum Bersten gefüllt sind und nie versiegen.

„Vier Hochzeiten und ein Todesfall, High Fidelity oder The Eternal Sunshine of the Spotless Mind?“
Ihre Freundin wählt letzteren.
„So schlimm?“ fragt sie, doch sie bekommt keine Antwort. Sie legt den Film ein, setzt sich wieder auf das Bett und legt nun doch den Arm um das Mädchen, das bereits bei der Vorschau wie hypnotisiert auf den Bildschirm starrt. Sie zieht es zu sich, die andere sinkt seufzend an ihre Schulter und murmelt: „Lass uns später noch weggehen, ja? Vielleicht mache ich es ja einfach mal wie du, betrinke mich und schlafe mit irgendwem.“

Sie zuckt zusammen bei diesen harten Worten doch sie lässt sich nichts anmerken. „Wie du möchtest. Eine von uns beiden muss ja den Ruf aufrechterhalten.“ „Stimmt, bei dir war es ziemlich ruhig in letzter Zeit.“
„Was soll ich sagen. Nice is good“, erwidert sie zeitgleich mit Jim Carrey.
Ihr Herz protestiert.




Damals: Aufstehen

Der Ire mit den grünen unschuldigen Kinderaugen hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass ihre Affäre vorüber war. Das hieß: er hatte alle ihre Anrufe ignoriert und tat so, als sähe er sie nicht, wenn sie sich über den Weg liefen. Sie hatte in Schottland schon weniger charmante Methoden zum Beenden einer Beziehung erlebt.

Die Frage war nur: wie hatte ihr bester Freund davon erfahren, und was machte er am Sonntag Nachmittag vor ihrer Tür? „Geht es dir gut?“ fragte er.

„Es ginge mir besser, wenn ich den Namen des Mannes in meinem Bett wüsste. Aber wart mal, vielleicht kennst du ihn ja? Magst du ihn dir kurz anschauen? Er schläft noch. Danach müsstest du allerdings gehen, ich will ihm den zweiten Mann in der Wohnung nicht erklären müssen.“

„Was ist mit dem Iren?“

„Was soll mit dem Iren sein?“


Seufzend las sie sich die mit Rechtschreibfehlern fast bis zur Unleserlichkeit gespickte SMS durch, die sie ihrem Freund allem Anschein nach Samstag Nacht geschickt hatte.


„Stimmt. Der Ire ist weg. Ich bin so froh dass ich dir regelmäßig erzähle, was in meinem Leben passiert, sonst würde ich die Hälfte einfach vergessen oder gar nicht erst mitbekommen.“


Ihr Freund lächelte nur und strich ihr über die struppigen Haare. „Immer schön vorsichtig, Kleine. Schmeiß den Unbekannten bald raus, ich hole dich um 7 zum Abendessen ab. Geht auf mich.“

Sie schloss die Tür hinter ihm und schwor sich, allen ihren Freunden so bald wie möglich zu sagen, dass sie sie liebte und brauchte ihnen für alles dankbar war, was sie sagten und was sie ungesagt ließen.


Bist du nicht auch manchmal traurig,

fragte sie
ohne mich anzusehen.

Es gibt keine Stelle in meinem Gesicht,
über die nicht schon einmal eine Träne lief,
keine Stelle an meinem Körper,
die nicht schon berührt worden wäre

Da sind die Spuren,
da sind die Atemzüge und Wimpernschläge,
da ist nichts mehr.

Willst du nicht auch manchmal fallen,
fragte sie,
wenn es nicht so viel schwerer wäre
als weiterzugehen.

Die Straße wird dein Freund,
laufe ihr entgegen und umarme sie
und vergiss nicht
dass die Hände, die sich nach dir ausstrecken,
nur an dieser Umarmung teilhaben wollen.

Und sie weinte.

Ich hielt sie
bis die Tränen wieder Spuren wurden
in meinen müden Armen,
die die Welt tragen,
die verhärten,
die sich nichts sehnlicher wünschen
als an dieser Umarmung teilzuhaben
und zu fallen.

Samstag, 31. Juli 2010

Sonntag

Damals: Luft holen

Am Ende hatte sie die französischen Sonntage lieben gelernt. Sie waren so viel stiller als die schottischen und weniger träge als die deutschen. Sie hielten ihre Hand, die so müde war vom stumpfen Mitschreiben der Diktate ihrer Professoren und strichen ihr über die erschöpften Augenlider. Die schwere Luft summte von Wiegenliedern.

Sie ging jeden Sonntag auf den Markt, der direkt um die Ecke lag, und kaufte ein wenig Obst und Gemüse, manchmal Käse und Eier. Sie hätte an jedem anderen Wochentag genauso gut einkaufen gehen können, doch sie liebte die Marktsonntage, an denen panische Franzosen in Scharen einfielen, sämtliche legalen und illegalen Parkplätze belegten und hektisch so viel an Feinkost einkauften, wie sie in ihrem Kofferraum verstauen konnten – stets mit der Furcht im Nacken, sie könnten gerade an diesem Tag, an dem man außer Essen ohnehin nicht viel unternehmen konnte, nicht genug frische Köstlichkeiten im Kühlschrank haben. Sie mochte auch die Marktschreier, die das Geschäft witterten und die allgemeine Kauflust auszunutzen suchten, indem sie sich lauthals und streitlustig gegenseitig an Preisen unter- und an Qualität überboten.
Sie trat an ihren bevorzugten Stand und die Besitzer (drei Männer aus drei Generationen) erspähten sie sofort. Der Mittlere holte eine frische Kiste Erdbeeren aus dem Lastwagen, die der Ältere ihr sofort zum Probieren aufdrängte. Nachdem sie sich die schönsten Exemplare ausgesucht und in eine Papiertüte gepackt hatte, verschwand die Kiste mit ausgewählt schönen Erdbeeren wieder im Wagen. Obwohl sie Erdbeeren nicht einmal sehr schätzte, so hatte sie dieses Ritual doch lieb gewonnen und freute sich auch über die neidischen Blicke der anderen Marktbesucher.

Sie stellte sich in die Schlange an der Kasse und betrachtete neugierig ein grünes Gemüse, das ihr völlig unbekannt war. Lange, dicke Stängel mit feinen, großen Blättern, vereinzelt grüne Knollen, die Blütenknospen sein mochten.
„Cima!“ hörte sie hinter sich. Dort stand eine breit lächelnde dunkelhäutige Frau, die nun ein Blatt des seltsamen Gewächses abriss und ihr zum Probieren hinhielt. Ungefragt fuhr sie fort: „In Salzwasser bissfest kochen, dann abgießen, ein wenig Kochwasser auffangen und mit Spaghetti und ein wenig Olivenöl servieren.“
Sie nickte und nahm sich eine Handvoll des grünen Krauts heraus, doch die Frau hielt sie auf. „Die Knospen sind das Beste. Suchen Sie die Knospen.“

Genau das tat sie und wenig später hatte sie eine dampfende Schüssel Spaghetti mit Cima vor sich, eine einfache Mahlzeit, die ihr eine einfache Frau in diesem alles andere als einfachen Land empfohlen hatte und die ihren langsamen Sonntag perfekt machen sollte.


Heute: Luft anhalten

Sie ist an diesem Sonntag um vier Uhr morgens von der Arbeit heim gekommen und sieben Stunden später wieder aufgewacht. Abgesehen von den Arbeitszeiten hat sie nichts gegen ihren Sommerjob und ist regelrecht froh, dass sie nach ihrer vorgeschriebenen Ruhephase wieder etwas tun kann, was sie von all den Männern und Frauen in ihrem Kopf ablenkt.
Besagter Kopf und vor allem die Haare darauf sind noch immer feucht, nachdem sie auf dem Heimweg von einem der unberechenbaren Sommergewitter überrascht worden war. Es regnet immer noch.

Sie schleppt sich in die Küche, wo sie feststellen muss, dass sie vergessen hat einzukaufen. Das Frühstück besteht also aus Kaffee. Sie liest lustlos die Wochenendausgabe der Zeitung. Es regnet immer noch.

Schließlich duscht sie, zieht sich an, greift sich einen Regenschirm und wagt sich hinaus. Für einen Tag wie diesen sind überraschend viele Menschen im englischen Garten, die meisten Hundebesitzer, alle Singles. Es ist so unnatürlich still, dass sie plötzlich wünschte, sie hätte einen MP3 Player mitgenommen, um ihre eigenen Gedanken nicht so laut hören zu müssen.
Das machen hier wahrscheinlich alle, denkt sie. Ihre Gedanken spazieren führen. Ihnen ein bisschen Auslauf gönnen. Doch das darf sie nicht, dafür sind die ihren noch zu wild und ungezähmt, sie nagen ununterbrochen an der Leine, die sie ihnen angelegt hat, und wenn sie sie laufen ließe wären sie bestimmt für immer verloren. In diesem grauen Regen. In dieser blanken Stille.

Ihr Handyklingelton zerreißt das Schweigen. Sie liest die Nachricht.


Selbst das spielen der hunde noch ziellos

an diesem tag

geht der blick des jungen
der sie beobachtet
ins nichts

werden die menschen
in parks
zu körpern

Ich wünsche mir jetzt
die augen meiner schwester
die beweise finden
wie detektive

Ich habe nur worte
weiße gipsabdrücke

So trage ich
diesen schweren tag in mir:

die seelen schlafen
die kirchenglocken geben den herzen
den takt

Montag, 26. Juli 2010

Blank

Heute: Schönheit


Nur knapp zwei Wochen später sind das Eis und die Ruhe von ihren Hüften verschwunden. Sie betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht eine schlanke junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine, auf die Innenseite der Oberschenkel, die so rot und feucht waren am Morgen nach ihrem ersten Versuch, wieder Sport zu machen. Doch die junge Ärztin mit den kurzen blonden Haaren und den dunklen Augen hatte ihr versichert, dass alles in Ordnung sei.
Es hatte gut getan, das zu hören.

Alles ist in Ordnung.

Langsam beginnt sie sich anzuziehen, dann sitzt sie an ihrem Schreibtisch. In ihrem Zimmer. In ihren Klamotten. Und atmet diese Münchner Luft, die ihr so widerwärtig vertraut ist.

Selbst die Ärztin, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, war ihr bekannt vorgekommen. Sie erinnert sie an eine Katze.
(Doch das war reiner Zufall.)

Damals wäre sie einfach weggelaufen, wenn sie sich so gefühlt hätte. In eine andere Stadt, in ein anderes Land – vielleicht einfach nur in ein anderes Bett. In einen anderen Zustand.
Heute würde sie sich weigern, Feuer mit Feuer zu bekämpfen und Probleme mit noch größeren Problemen zu überschatten. In ihrem neuen Leben waren Alkohol und Sex keine Protagonisten. (Vielleicht Souffleure?)

Sie denkt noch eine Weile darüber nach, warum Vertrautheit sie abzuschrecken und alle anderen Menschen anzuziehen scheint. Dann denkt sie an die Ärztin. Und sie erinnert sich: Cat. Ihr Herz verkrampft sich.

(Der restliche Tagesverlauf lässt sich rasch zusammenfassen: sie wird sich in voller Kleidung in ihr Bett legen und fünf ganze Die Drei ??? Kassetten am Stück hören, bei der sechsten wird sie einschlafen.)


Damals: Sex

Der Abend, an dem sie in der Jugendherberge in ihrer Kleinstadt im Süden Frankreichs ankam, war so heiß und schwer, dass sie sich fast wie in einem Márquez-Roman fühlte. (Und die Vorahnung trog sie nicht: die Einsamkeit sollte kommen, selbst wenn sie keine hundert Jahre dauern würde.) Erschöpft schleppte sie sich an die Rezeption, erklärte in ihrem gebrochenen Französisch, dass sie ein Bett im Schlafsaal gemietet habe.

Sie brachte ihren Koffer in das Zimmer, setzte sie sich mit ihrem Laptop an die Bar, die zur Herberge gehörte und kostenloses Internet anbot, um sich auf Wohnungssuche zu begeben. Außer ihr war nur noch ein anderes Mädchen an der Bar, es hatte sehr kurze blonde Haare, rauchte und starrte dabei völlig ungeniert das "rauchen verboten“ Schild an. Doch schon bald wanderte sein Blick weg vom Schild und hin zu ihr, wo er verharrte.
Sie begann sich unwohl zu fühlen unter diesem bohrenden Blick und fürchtete sich doch, aufzuschauen und ihn zu erwidern. (Noch eine Vorahnung, die sich bestätigen sollte.)

Das Mädchen stand auf – im Stehen erschien sie viel größer als zuvor noch auf dem Barhocker – und schlenderte zu ihr. Es stützte sich mit dem linken Arm neben ihr auf der Bar ab. Es roch gut.
Vorsichtig hob sie nun doch den Blick vom Bildschirm und sah der Anderen ins Gesicht. Hinter langen blonden Wimpern lauerten dunkle Katzenaugen.

„Du suchst nach einer Wohnung?“

„Ja.“

„WG?“

„Ja.“

„Ich habe eine Wohnung für dich. 180€ inklusive Nebenkosten.“

„Ah...“

Sie musste lächeln. Frankreich war gut zu ihr. Oder?

„Und warum?“

„Weil das Semester erst in zwei Wochen anfängt, und ich noch jemanden brauche, der für die nächsten zwei Wochen mit mir nach Paris fährt. In der Zeit hast du dann wahrscheinlich wenig Zeit, dir hier eine Wohnung zu suchen.“

Es folgten zwei rauschhafte Wochen, in denen sie halbwach durch Paris taumelten, sich verkleideten, in Theater gingen, in denen ihr Cat (so hatte sie die ihr nach wie vor Unbekannte getauft, und diese hatte gleichmütig zugestimmt) vertrauter wurde als irgendwer sonst, ohne dass sie ihrer überdrüssig wurde. Das muss Liebe sein, dachte sie.
Und das muss Schmerz sein, wusste sie, als Cat verschwand.

Sie blieb noch drei Nächte in der im Voraus bezahlten Herberge und wartete, doch Cat blieb verschwunden. Schließlich fuhr sie zurück, um ihr Studium zu beginnen, und fragte ihren Vermieter über die vertraute Fremde aus, doch der blieb einsilbig.
Sie meinte, ein zweites wundes Herz zu erkennen.

(Sie würde ihn nie wieder darauf ansprechen: er war ein zuverlässiger, hilfreicher Vermieter, nicht allzu aufdringlich. Eine Perle unter den Franzosen. Sie würde sämtliche Vita Sackville-West Biographien lesen, die sie finden konnte, und sie würde die Finger von Frauen lassen.
So begann ihr Jahr in Frankreich mit Wunden Lecken.)

Hier ist alles noch neu
und
fingerabdrucklos rein.

Meine Blicke legen sich
wie Häute
auf die Welt.

Ein leeres Buch
ist vielleicht das Beste,
das je geschrieben wurde.
sagt sie und
küsst mich.

Mit ihren
Glausaugen
und
Nylonhaaren
und
Lippen.

Wenn ich ausatme
beschlägt sie.

Ich werde den roten Faden
und sie verlieren
und weiterblättern
auf lilienweißen Seiten.

Samstag, 24. Juli 2010

Honigtage

Damals: Seele


Vor annähernd zwei Jahren: der schottische Herbst hatte ihre Sinne versiegelt. Sie sah nichts außer wilden Wolken, sie roch nichts außer feuchtes Laub, sie hörte nichts außer wütenden Stürmen, sie schmeckte nichts außer tanzendes Meer, sie fühlte nichts außer eine nahezu schmerzhaften Liebe zu diesem zornigen Land. Sie wusste, dass diese Liebe unerwidert bleiben und der Wind nie aufhören sollte, ihr unsanft ins Haar zu greifen, daran zu reißen und sie anzubrüllen.

(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Masochisten.)

Ganze Tage verstrichen, an denen sie so durch ihre Stadt lief, die Seele zum Überlaufen voll mit Sehnsucht und einem zaghaften, fragilen Glück, das bereits die Trennung fürchtete. So erfüllt war sie von diesem Gefühl, dass die Menschen, die sich flüchtig wie Vögel in ihrem Herzen eingenistet hatten, keinen Platz mehr fanden und empört zwitschernd und zunehmend wütend und müde um sie herumflatterten, einen neuen Rastplatz suchend. Sie war zeitweise unerreichbar für die Außenwelt, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.

(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Sadisten.)

Sie und der schottische Herbst: die Geschichte einer großen Liebe. Auch der milde Inselwinter sollte gut zu ihr sein, ebenso wie der schlaftrunkene alkoholbeschwingte immerlächelnde Frühling.

Vor annähernd einem Jahr: Es gabTränen, als der französische Sommer sie auseinanderriss und zu ersticken drohte. Der französische Herbst machte sich nicht einmal die Mühe einer Aufwartung, der Winter hielt sie in einem eisernen eiskalten Würgegriff, den nicht einmal warme Betten und weiche Arme zu sprengen vermochten. Der Frühling brachte nichts als Hoffnung. Und einen dunklen Engländer.



Heute: Verstand

Das lange Liegen, das Eis und der Whisky werden langsam an verschiedenen Stellen ihres eigentlich schlanken Körpers sichtbar. Sie steht vor dem Spiegel, lange, und sieht sich nicht. Sie sieht den Engländer, der sie betrachtet. Damals. Der sie ignoriert. Heute.

Das Bild verschwimmt und sie sieht nun eine leicht rundliche junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine. Die Leere sitzt nicht mehr dort, sie ist in ihre Brust gewandert. Obwohl die vom Arzt empfohlene Ruhefrist noch nicht abgelaufen ist, geht sie laufen, für eine halbe Stunde. Davon denkt sie 27 Minuten lang an ihn, zwei Minuten lang an die Brüder, eine Minute lang an das Ziehen in ihrem Unterleib, das gegen Ende wieder auftritt.

Sie sperrt ihre Wohnung auf. Sie duscht sich. (Sie denkt an ihn.) Sie macht sich einen Salat. Sie sieht sich einen Film an. (Snatch – sie denkt an ihn.) Sie schenkt sich ein Glas Whisky ein und liest. (Jane Eyre – sie denkt an Schottland.)

Die Tage mit dir im Kopf
sind Honig.
Sie fließen langsam und schmecken
klebrig.

Niemals sehe ich hinter deine Augen oder
die Sonne.
Zähe Fäden machen meinen Körper träge.

Goldene Spinnennetze
in schwarzen Kammern
halten mich gefangen für
süße Ewigkeiten.

Irgendwann krieche ich durch die hellen Spalten
in der Jalousien
und bleibe nicht stecken.


Dienstag, 6. Juli 2010

Whisky

Heute: Vorurteil


Sie betritt die Bar direkt am Gärtnerplatz, der winzige Raum ist lichtdurchflutet. Und in der Mitte ganz in Weiß: "Liebste!"
Sie küsst ihre Freundin und sie setzen sich an den einzigen freien Tisch. Es dauert, bis sie bestellen können, beide wählen Whisky. (Jack Daniel's Black Label - die Auswahl ist begrenzt.)
Ihre Freundin, die Smalltalk und Höflichkeiten wann immer es geht vermeidet, fragt gerade heraus: "Der erste Abend, den du nicht allein im Bett verbringst - warum sind wir hier?"

Zu müde, eine ganze Renaissance zu erklären, antwortet sie nur: "Der Engländer hat nicht geschrieben."

"Das ist keine Antwort auf meine Frage!"

Stille.

"Oder?"

Der Whisky kommt.

"Das ist eine Antwort auf deine letzte Frage und auf deine nächste Frage: wie ich mich fühle. Wir sind hier, weil ich hier absolut niemanden kenne und weil keine Lust mehr habe ins Pub zu gehen und die Zwillinge zu sehen. Ich kann nicht ununterbrochen austeilen, um garantiert niemals einzustecken. Ich bin zu müde für Spielchen. Ich bin zu müde für Präventivkrieg."

Nochmals Stille. Dann:

"Einverstanden. Die Zwillinge haben Auszeit. Gib mir dein Handy, wir schreiben dem Engländer. Damit du aufwachst."

Sie lächelte und hob ihr Glas. "Auf die Wahrheit."



Damals: Stolz



Sie betrat das Pub, die so seltsam an der Ecke eines Hauses gelegen und damit pfeilförmig war, die trotz ihrer Fensterreihen an zwei von drei Seiten dunkler schien als so mancher Keller: schwere Fässer und Whiskyflaschen lauerten in den Fensternischen und schluckteen gierig das Tageslicht. Ohne sich umzusehen ging sie an die Bar und setzte sich, sie wusste, dass ihre Freunde noch nicht da sein konnten, schließlich war sie eine gute Viertelstunde vor der verabredeten Zeit erschienen. Das gab ihr mindestens eine halbe Stunde bis ihre verläßlich verspäteten Schotten eintreffen würden. Wie immer.

Noch bevor sie sich richtig gesetzt hat stand ein Glas Whisky vor ihr und der Barkeeper sagte ohne sie anzusehen: "Zu früh kommen ist unhöflich, Germany."
Steilvorlage. Sie antwortete grinsend: "Das ist genetisch. Aber mit guter Gesellschaft vergeht das Warten wie im Flug, meinst du nicht, Heathcliff?"
Ohne auch nur den Anflug eines Lächelns erwiderte dieser: "Du hast gut reden, dieses Gespräch ist bestimmt leichter zu ertragen mit einem Ardbeg in der Hand und in der Kehle. Und hör auf mich Heathcliff zu nennen."

Sie lächelte nur und freute sich auf die kommenden Minuten. Kaum etwas machte sie so glücklich wie ein Mann, der schwer zu erobern war. Sie hatte Heathcliff (dessen echten Namen sie zwar eines Abends erfragt aber nach etwas Pech im Trinkspiel am nächsten Morgen vergessen hatte) nun schon knapp drei Monate bearbeitet. Er war reif. Sie sah es in den verstohlenen Blicken, die er ihr zuwarf, wenn er dachte sie bemerke es nicht, und an den unnötig schroffen Antworten, die er seinen Kollegen und den Pubgästen gab, wenn sie nach ihr fragten. Am klarsten sah sie es in den giftigen Blicken, die eine ganz bestimmte Kollegin Heathcliffs ihr oft zuwarf.
Sie wusste: bald war es soweit.

(Was sie nicht wusste: schon heute Abend sollte er sie und ihre Freunde nach der letzten Runde zum Bleiben einladen. Er sollte ihr in einem ruhigen Gespräch zum ersten Mal direkt in die Augen sehen und sie nicht mehr Germany nennen. Sie sollten überstürzt ins Büro gehen und halbnackt auf den Abrechnungen entdeckt werden. Er sollte seinen Job behalten dürfen, sie sollten zwei Tage später beenden was sie an diesem Abend angefangen hatten, in ihrem Bett, ohne Unterbrechung, aber auch ohne Cathy.)

Wir passen immer nur so gut
wie deine Faust
auf mein Auge.

Ich biete
eine rote Schweißperle
gegen hundert goldene Blicke.

Damals
war Herzblut noch
mehr als nur Farbstoff.

Heute
sind es
Versprechen mit Sollbruchstelle.

Die Zeit vergeht langsam
unter Samthäuten.
Hoffnungen sterben
zuletzt
warte ich auf einen Heathcliff,
der mich unsterblich macht.

Donnerstag, 27. Mai 2010

Epiphanie

Heute: Erwachen


Sie blinzelt träge in das graue Licht. Ihr Handy behauptet es sei Donnerstag, 14:08Uhr. Nicht einmal eine Woche (und noch lange nicht zwölf Tage) nach ihrer Operation. Zwei Packungen Binden, vier Liter Eiscreme, sechsundzwanzig Die Drei ??? Folgen, Hundert Jahre Einsamkeit, Die Welt als Wille und Vorstellung, null Anrufe nach ihrer Operation.

Sie steht auf, die runde Null ihrer Anrufe legt sich um ihren Hals wie eine Schlinge. Sie wird enger.
Beim Zähneputzen überlegt sie sich, warum um Himmels Willen die Spanier und Südamerikaner es nicht fertigbringen, ein Buch zu schreiben, in dem Liebe annähernd realistisch beschrieben wurde. Worüber man nicht reden kann, darüber soll man schreiben, und das mit der Leidenschaft hätten sie ja durchaus drauf. Oder, so denkt sie weiter, liegt es an mir und an meiner Welt, die voller Leidenschaft und etwas arm an Liebe ist? Erkenne ich sie einfach nicht? Die Null wird wieder enger.
Verächtlich spuckt sie aus. Eine Liebe, die ausschließlich auf der Attraktivität beider Parteien (in vielen Fällen auch nur einer einzigen) beruht und andauert ist in ihrer wie in Schopenhauers Welt völliger Schwachsinn und lässt sich so wohl nur zwischen Buchdeckeln finden. Denn sonst müsste ihr Leben voll von Liebe sein (der dreifache Grund, liebster Arthur: ich bin schön, ich bin schön, ich bin schön.) Sie holt tief Luft und sprengt die Null. Dann schminkt sie sich und zieht sich ihr schwarzes Lieblingskleid (das mit den aufgedruckten Käfern) zusammen mit einer feinen Strumpfhose und hohen schwarzen Schuhen an. Sie betrachtet sich im Spiegel, legt die Hand auf den Unterkörper (ein leichtes Ziehen), tauscht die hohen schwarzen Schuhe gegen flache.
Sie ist schön.

Sie wird nun Kaffee trinken gehen, allein, und morgen vielleicht in irgendeine Bar, nicht allein.



Damals: Einschlafen


Schottland vor vielleicht einem Jahr.
Sie blinzelt träge in das graue Licht. Ihr Handy behauptet es sei Donnerstag, 14:08Uhr. Gerade einmal acht Stunden, vier Anrufe in Abwesenheit und neun SMS seit sie nach Hause gekommen und noch in ihrem schwarzen Lieblingskleid (mit den aufgedruckten Käfern) ins Bett gefallen ist. Immerhin die schwarzen hohen Schuhe hatte sie ausziehen können.
Vorsichtig tastet sie neben sich, doch das Bett ist leer. Erleichtert rollt sie sich wieder zusammen, schaltet ihr Handy aus und denkt an den gestrigen Abend.

Sie haben Bäume gepflanzt
in den Clubs.

Die Garderoben
konnten unsere modrige Stille
nicht mehr fassen.

Jetzt hängen wir sie
zum Trocknen
an die Äste,
geschüttelt vom Bass,
gelüftet vom Beat.

Wir sind Nachtschattengewächse
mit beschnittenen Sinnen
und gedüngter Gier,
wir tasten die silbernen Baumstämme
nach Lichtschaltern ab.

Meist finden wir nur
Regler
und schieben sie
in die Dämmerung.

Dann werden wir alle
wieder Erde
und Reden wird Holz
und Schweigen wird Asche
und der Morgen legt sich
um eine einzelne
vergessene Stille.

Sonntag, 23. Mai 2010

Nähe und Ferne

Damals: Sex

Sie geht heim mit dem dunklen Engländer, sie weiß nicht (weder damals noch heute) wieviel Uhr es ist aber es dämmert, vermutlich zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Sie führen zwei völlig von einander unabhängige Unterhaltungen miteinander. Er sagt er hasse Frankreich und liebe sein Motorrad. Sie sagt sie sei dicht. Er sagt weiter, dass er es kaum glauben kann dass sie zwei Stunden pro Tag, zwei Tage pro Woche, 14 Wochen pro Semester in derselben Vorlesung saßen und an diesem Abend zum ersten und vermutlich letzten Mal zusammen weggegangen sind. (Bezüglich letzterer Aussage sollte er falsch liegen.) Sie sag sie liebt Augustiner und Tegernseer aber sie sei viel zu dicht um diese Flasche auszutrinken. (Bezüglich letzterer Aussage sollte sie falsch liegen.) Er schüttelt den Kopf darüber, dass er ihren zweiten Vornamen, ihr Fußballteam, ihre neue Adresse in Schottland sowie das Umzugsdatum kennt aber nicht einmal wusste, dass sie Bier mag. Sie sagt sie finde Bier geil. Und Whisky auch.
An dieser Stelle, gerade als die beiden Unterhaltungen einen ersten vorsichtigen Vorstoß in dieselbe Richtung wagen, beschließt er, ihre rechte Brust zu packen und sie zu küssen. Sie weiß nicht (weder damals noch heute) ob er zuvor schon mit diesem Gedanken gespielt hatte, an diesem Abend oder während jeder Vorlesung an jedem Tag in jeder Woche dieses Semesters. Aber es ist ihr auch eigentlich egal.


Heute: Verstand

Ihr Zimmer ist so weiß wie ihre Gedanken. Ihr Bett ist ein bisschen zu breit. Die Wärme ihres schläftigen Körpers kann sich nicht darin einnisten, sie zittert bei jedem Umdrehen, bei jeder Bewegung.
Sie erinnert sich an die erste Nacht mit dem dunklen Engländer vor einem Monat, und dass sie damals nicht geglaubt hätte, dass irgendein Bett jemals zu breit sein könnte. Sie schaut auf ihre Handys (Deutschland und Großbritannien - Frankreich wurde sofort nach ihrer Rückkehr vor drei Wochen ausgeschaltet), kriecht aus ihrem breiten Bett und geht langsam zu ihrem Schreibtisch. Ein Fuß vor den anderen. Sie setzt sich vorsichtig. Sie fühlt keinen Schmerz, nur Leere. Sie checkt ihre E-Mails.

Sie geht zurück zu ihrem breiten Bett.

Leere überall, in ihren Handys, in ihrer Mailbox, in ihrem Bett, in ihrem Körper. Und ein dunkler Engländer in der Mitte. Von alldem.

Sie schreibt: "Bitte bitte bitte komme und wärme mein leeres Bett. Bring Eis." Zehn Minuten später wird ihre beste Freundin vor ihrer Tür stehen und einen Vanilleeis Kübel wie einen Pokal über ihrem Kopf schwenken. Manche Dinge ändern sich nie.


Samstag, 22. Mai 2010

renaissance

Gestern

war der Tag ihrer Renaissance. Es war so furchtbar wie man es von einer Geburt erwarten würde.

Ein krankenhausweißer Raum. Ihre Augen waren taub, ihre Ohren starrten schamlos. Die schöne (der Ausdruck „engelsgleich“ ist im Zusammenhang mit Krankenhäusern zu vermeiden) Ärztin brauchte fast eine Stunde und einen Liter klarer Flüssigkeit um die schweren Lider aufzustemmen und ihr müdes Herz zum Weiterschlagen zu überreden.

Sie erklärte ihr, was sie während des kommenden Monats tun dürfe (Tee trinken, leichte Mahlzeiten einnehmen, Pillen schlucken) und was sie nicht tun dürfe (Tampons benutzen, Sex haben, nach unten sehen).

Gestern war das Ende eines anderen Lebens und nur das feuchte Rot zwischen ihren Beinen ist übrig geblieben. Sie trinkt tee, nimmt leichte Mahlzeiten ein und schluckt Pillen, die ihr zuflüstern und sie verleben (Hals über Kopf).

Ideen:

Poesie (für den Geschmack, die Reinheit, das Schwindelgefühl und die zitternden Wimpern, in geringen Dosen einzunehmen, genau wie - ) Whisky (siehe Poesie, desweiteren für den Mann in ihr, genau wie - ) Sex (für das müde Herz, den salzigen Schweiß, das Vergessen bezüglich der Leere zwischen ihren Beinen, das Hecheln, genau wie - ) Schönheit (für ihren Körper und all die Körper in ihrer Umgebung, für all die Seelen in ihrer Umgebung und ihre - ) Seele (um all diese Elemente aufzuheben nebst) Verstand (um all diese Elemente zu ordnen)