Montag, 29. November 2010

Von den Worten

Jetzt: Gold


Und dann, nach und nach, verstummt sie.
Es ist nicht so, als kämen keine Laute mehr über ihre Lippen, vielmehr wird alles, was sie sagt, reine Reaktion. Einem dressierten Tier gleich läuft sie durch das wankelmütige München und lächelt, nickt, sagt ja, sagt nein, stöhnt, seufzt, lacht und weint an den jeweils angemessenen Stellen. Manchmal vertut sie sich ein wenig doch das fällt selten auf, schließlich erzählt sie jedem gewissenhaft, dass sie in letzter Zeit „ein wenig zerstreut“ ist. Und es stimmt: jeder Laut, den sie verursachte, springt in tausendfachem Echo in ihrer Leere hin und her und lässt sie schaudern.
Die Leere, das Neue, das Unbeschriebene, dem sie frische Tinte aufzwingen wollte, hat selbst die hartnäckigste Druckerschwärze abgewiesen und frisst sich langsam durch ihre Organe.

Natürlich gibt es auch die, die versuchen, sie aufzusammeln und neu zusammenzusetzen. Doch dies sind Scherben, die Körperflüssigkeiten oder Eiscreme nicht zusammenfügen können. Ihre zaghaften Erklärungsansätze bei besonders warmen Rettungsversuchen verhallen in dem Weiß, das ihr aus dem Mund und aus der Nase kriecht und sich wie eine Taucherglocke um ihren Kopf gelegt hat.

Manchmal geht ein Beben durch sie und sie sieht für wenige Sekunden eine Liste von Dingen, die ihr Körper verlangte. Dann verstummen ihre Sinne wieder.


Die Ideen liegen in ihr
wie überreife Früchte.

Ihre Zunge hat noch nie
ein Wort gekostet.

Du aber kannst
Samenkapseln pflücken
von den Seufzern ihrer
stummen Lippen.

Du musst
sie sammeln
aus ihren geschwätzigen Händen

du sollst
sie suchen
im Rhythmus ihrer Schritte.

Decke sie zu
mit Buchstabenerde
und ihrer Geduld.







Damals: Silber


Nach der überstürzten Ankunft und den langen Pariser Nächten schlug sie hart auf dem herbstfrostigen Boden Frankreichs auf. Ein Gefühl nicht ganz unähnlich dem, das sie Anfang diesen Sommers überfallen hatte, schlich sich in ihr Leben. Der Unterschied war nur, dass dieses Leben damals so übervoll war und sie einen blanken Punkt vergeblich suchen musste. Es war nicht einmal Raum für ein neues Wort.

Es sollte wieder einmal die Andere sein, die für ein paar Tage zu ihr fuhr und ihr Windschatten im Herbststurm bot. Sie räumte gewissenhaft das Chaos, das in ihr herrschte auf, faltete, stapelte, verpackte in Kisten und verstaute diese. Sie machte die Sicht frei und deutete.
Auf den morgendlichen Nebel, der sich träge aus dem grauen Gras erhob. Auf den Feigenbaum, der sich zwischen die Walnussbäume geduckt hatte. Auf die Chocolaterie, die mit jedem Espresso eine kleine Praline zur Probe anbot. Auf die sterbenden Sonnenblumen.

Als ihr die Tränen in die Augen stiegen, packte die Freundin sie fest bei der Hand und rief: „Jetzt gilt’s!“ Und sie rannten blind in das Feld voller Leichen.


Und wieder
hat mich diese Frau
mit ihren starken Armen
in meine Welt geworfen
(die ich ihn zeigen wollte),
hat mich in ein Feld voller
toter Sonnenblumen geworfen
und gesagt:
„Wer bräuchte denn da noch
das Schweigen?“

Sie hat mir einen Umhang umgelegt,
der nach Mandeln riecht,
und gesagt:
„Jetzt kommt die Jahreszeit, in der dein Atem
die Welt ohnehin aussperrt –
du kannst die Fäuste herunternehmen.“

Und als sie wieder ging
hat sie nur gesagt:
„Wenn ich deinen Kopf jetzt loslasse,
lass ihn nicht fallen.“

Da waren ihre breiten Schultern,
da war ihr roter Mantel in der Ferne,
da war ich wieder allein.

Aber mein Schweigen liegt gut
bei den toten Sonnenblumen.

Donnerstag, 11. November 2010

leben über menschen

Jetzt: Überleben


Sie hält eine leere Kaffeetasse umklammert. Ihre Wohnung ist im ersten Herbststurm abgekühlt, sie scheint es nicht zu merken. Ihr Körper merkt es, jeder einzelne Muskel ist gespannt. Sie ist ein Tier mit geweiteten Pupillen, bereit zum Sprung.
Wohin läuft man auf der Flucht vor etwas, das einem auf Schritt und Tritt folgt? Man läuft nicht. Man bleibt stehen. Man wird zu etwas anderem, zu einem Wesen, dem sein Schatten gleichgültig ist. Das keinen Schatten kennt. Ein Tier mit geweiteten Pupillen vielleicht. Oder ein Stück Holz.
Am schönsten vielleicht noch – eine Statue. Damit der Rest der Welt nichts bemerkt und man sie weiter betrachten kann. (Bitte nicht anfassen.)

Sie unterteilt ihre freie Zeit in Abschnitte, die alle ziemlich genau eine Stunde dauern (wahlweise eine Die Drei ??? Kassette oder ein Kapitel aus Jenseits von Gut und Böse). Sie geht zur Arbeit. Sie isst. Tatsächlich isst sie ziemlich viel in letzter Zeit, nun, im Grunde kocht sie einfach nur ziemlich viel in letzter Zeit. Diese ungewohnten Handbewegungen, die neuen Geschmackserlebnisse, nichts davon könnte irgendwelche Erinnerungen wachrufen. Es beginnt mit den Muscheln, die sie in Brügge gegessen hat. Dann kocht sie sich beständig durch den restlichen Blog.

Sie kocht auch für andere, die kommen und essen und betrachten die Statue. (Bitte nicht anfassen.)
Auch heute Abend hat sie Menschen eingeladen, die lange über seltsam wächsern aussehenden Artischocken schweigen. „Das in der Mitte, das muss man rausschneiden, das ist ungenießbar“, will einer wissen. „Das Herz, das ist das Beste. Warum man sich diese Mühe mit all den Blättern und Schichten, an denen doch fast nichts dran ist, machen soll, verstehe ich wirklich nicht…“ erläutert ein anderer.
Nun merkt sie doch, wie kalt es geworden ist.
Und in ihr hebt zaghaft ein Wunsch den Kopf: einen der beiden Weisen zu fragen, ob er sie heute Abend anfassen möchte.


Ich trage meine Nacht
überall.

Vorgestern besuchte mich
ein hartes Feuer.
Es spuckte wie ein Vulkan,
es kreischte
brennende Sätze.

Leichen leuchten
nur grün im Dunkeln –
ich mache mir Kerzen
aus ihren Schlüsselbeinen.

Das Schwarz
kann mich nicht beißen
mit meinem schreienden Feuer
mit meinen Totenkerzen
und wenn alles verglimmt
suche ich
Menschen.

Nichts schimmert so schön
wie lebendige Haut.




Damals: Übermenschen


In einem der seltenen Momente in denen sie die Ahnung, dass Cat sie bald verlassen würde, in ihr Herz ließ, fragte sie widerwillig und mit schwerer Zunge, warum sie sie mitgenommen hatte.
Die Blonde antwortete ohne zu zögern. Weil ich mich nicht mag, sagte sie, und du lenkst mich ein wenig von mir ab.

Der Alkohol und der Zweifel, ob die dieses Mädchen liebte oder nur selbst so geliebt werden wollte, wie sie dieses Mädchen liebte, tanzten Walzer in ihrem Kopf. Sie wippte ihren Fuß im Takt der Musik und setzte konzentriert das, was Cat ihr gesagt hatte, mit ihrem Zweifel zusammen wie ein Puzzle. Sie erhielt eine Erkenntnis, die ihr im kommenden Jahr viel hätte ersparen können, wenn da nicht plötzlich der Alkohol die Musik aufgedreht und auf Rock’n’Roll gewechselt hätte, sodass sie sich am nächsten Morgen an nichts von alldem mehr erinnerte.


Leih mir für einen Moment
deine Augen
damit ich mich wohlwollend
betrachten kann

Wenn man nur sieht
was man sehen möchte
bin ich rot-grün-blind

Ich will
gut sein
nicht für dich
einfach nur weil
ich ein wenig Liebe brauche
von jemandem
der mir näher ist
als du

Darum
verzeih mir
die Lüge
ich liebe dich nicht
und sei
gut