Sonntag, 23. Mai 2010

Nähe und Ferne

Damals: Sex

Sie geht heim mit dem dunklen Engländer, sie weiß nicht (weder damals noch heute) wieviel Uhr es ist aber es dämmert, vermutlich zwei Stunden vor Sonnenaufgang. Sie führen zwei völlig von einander unabhängige Unterhaltungen miteinander. Er sagt er hasse Frankreich und liebe sein Motorrad. Sie sagt sie sei dicht. Er sagt weiter, dass er es kaum glauben kann dass sie zwei Stunden pro Tag, zwei Tage pro Woche, 14 Wochen pro Semester in derselben Vorlesung saßen und an diesem Abend zum ersten und vermutlich letzten Mal zusammen weggegangen sind. (Bezüglich letzterer Aussage sollte er falsch liegen.) Sie sag sie liebt Augustiner und Tegernseer aber sie sei viel zu dicht um diese Flasche auszutrinken. (Bezüglich letzterer Aussage sollte sie falsch liegen.) Er schüttelt den Kopf darüber, dass er ihren zweiten Vornamen, ihr Fußballteam, ihre neue Adresse in Schottland sowie das Umzugsdatum kennt aber nicht einmal wusste, dass sie Bier mag. Sie sagt sie finde Bier geil. Und Whisky auch.
An dieser Stelle, gerade als die beiden Unterhaltungen einen ersten vorsichtigen Vorstoß in dieselbe Richtung wagen, beschließt er, ihre rechte Brust zu packen und sie zu küssen. Sie weiß nicht (weder damals noch heute) ob er zuvor schon mit diesem Gedanken gespielt hatte, an diesem Abend oder während jeder Vorlesung an jedem Tag in jeder Woche dieses Semesters. Aber es ist ihr auch eigentlich egal.


Heute: Verstand

Ihr Zimmer ist so weiß wie ihre Gedanken. Ihr Bett ist ein bisschen zu breit. Die Wärme ihres schläftigen Körpers kann sich nicht darin einnisten, sie zittert bei jedem Umdrehen, bei jeder Bewegung.
Sie erinnert sich an die erste Nacht mit dem dunklen Engländer vor einem Monat, und dass sie damals nicht geglaubt hätte, dass irgendein Bett jemals zu breit sein könnte. Sie schaut auf ihre Handys (Deutschland und Großbritannien - Frankreich wurde sofort nach ihrer Rückkehr vor drei Wochen ausgeschaltet), kriecht aus ihrem breiten Bett und geht langsam zu ihrem Schreibtisch. Ein Fuß vor den anderen. Sie setzt sich vorsichtig. Sie fühlt keinen Schmerz, nur Leere. Sie checkt ihre E-Mails.

Sie geht zurück zu ihrem breiten Bett.

Leere überall, in ihren Handys, in ihrer Mailbox, in ihrem Bett, in ihrem Körper. Und ein dunkler Engländer in der Mitte. Von alldem.

Sie schreibt: "Bitte bitte bitte komme und wärme mein leeres Bett. Bring Eis." Zehn Minuten später wird ihre beste Freundin vor ihrer Tür stehen und einen Vanilleeis Kübel wie einen Pokal über ihrem Kopf schwenken. Manche Dinge ändern sich nie.


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