Damals: Luft holen
Am Ende hatte sie die französischen Sonntage lieben gelernt. Sie waren so viel stiller als die schottischen und weniger träge als die deutschen. Sie hielten ihre Hand, die so müde war vom stumpfen Mitschreiben der Diktate ihrer Professoren und strichen ihr über die erschöpften Augenlider. Die schwere Luft summte von Wiegenliedern.
Sie ging jeden Sonntag auf den Markt, der direkt um die Ecke lag, und kaufte ein wenig Obst und Gemüse, manchmal Käse und Eier. Sie hätte an jedem anderen Wochentag genauso gut einkaufen gehen können, doch sie liebte die Marktsonntage, an denen panische Franzosen in Scharen einfielen, sämtliche legalen und illegalen Parkplätze belegten und hektisch so viel an Feinkost einkauften, wie sie in ihrem Kofferraum verstauen konnten – stets mit der Furcht im Nacken, sie könnten gerade an diesem Tag, an dem man außer Essen ohnehin nicht viel unternehmen konnte, nicht genug frische Köstlichkeiten im Kühlschrank haben. Sie mochte auch die Marktschreier, die das Geschäft witterten und die allgemeine Kauflust auszunutzen suchten, indem sie sich lauthals und streitlustig gegenseitig an Preisen unter- und an Qualität überboten.
Sie trat an ihren bevorzugten Stand und die Besitzer (drei Männer aus drei Generationen) erspähten sie sofort. Der Mittlere holte eine frische Kiste Erdbeeren aus dem Lastwagen, die der Ältere ihr sofort zum Probieren aufdrängte. Nachdem sie sich die schönsten Exemplare ausgesucht und in eine Papiertüte gepackt hatte, verschwand die Kiste mit ausgewählt schönen Erdbeeren wieder im Wagen. Obwohl sie Erdbeeren nicht einmal sehr schätzte, so hatte sie dieses Ritual doch lieb gewonnen und freute sich auch über die neidischen Blicke der anderen Marktbesucher.
Sie stellte sich in die Schlange an der Kasse und betrachtete neugierig ein grünes Gemüse, das ihr völlig unbekannt war. Lange, dicke Stängel mit feinen, großen Blättern, vereinzelt grüne Knollen, die Blütenknospen sein mochten.
„Cima!“ hörte sie hinter sich. Dort stand eine breit lächelnde dunkelhäutige Frau, die nun ein Blatt des seltsamen Gewächses abriss und ihr zum Probieren hinhielt. Ungefragt fuhr sie fort: „In Salzwasser bissfest kochen, dann abgießen, ein wenig Kochwasser auffangen und mit Spaghetti und ein wenig Olivenöl servieren.“
Sie nickte und nahm sich eine Handvoll des grünen Krauts heraus, doch die Frau hielt sie auf. „Die Knospen sind das Beste. Suchen Sie die Knospen.“
Genau das tat sie und wenig später hatte sie eine dampfende Schüssel Spaghetti mit Cima vor sich, eine einfache Mahlzeit, die ihr eine einfache Frau in diesem alles andere als einfachen Land empfohlen hatte und die ihren langsamen Sonntag perfekt machen sollte.
Heute: Luft anhalten
Sie ist an diesem Sonntag um vier Uhr morgens von der Arbeit heim gekommen und sieben Stunden später wieder aufgewacht. Abgesehen von den Arbeitszeiten hat sie nichts gegen ihren Sommerjob und ist regelrecht froh, dass sie nach ihrer vorgeschriebenen Ruhephase wieder etwas tun kann, was sie von all den Männern und Frauen in ihrem Kopf ablenkt.
Besagter Kopf und vor allem die Haare darauf sind noch immer feucht, nachdem sie auf dem Heimweg von einem der unberechenbaren Sommergewitter überrascht worden war. Es regnet immer noch.
Sie schleppt sich in die Küche, wo sie feststellen muss, dass sie vergessen hat einzukaufen. Das Frühstück besteht also aus Kaffee. Sie liest lustlos die Wochenendausgabe der Zeitung. Es regnet immer noch.
Schließlich duscht sie, zieht sich an, greift sich einen Regenschirm und wagt sich hinaus. Für einen Tag wie diesen sind überraschend viele Menschen im englischen Garten, die meisten Hundebesitzer, alle Singles. Es ist so unnatürlich still, dass sie plötzlich wünschte, sie hätte einen MP3 Player mitgenommen, um ihre eigenen Gedanken nicht so laut hören zu müssen.
Das machen hier wahrscheinlich alle, denkt sie. Ihre Gedanken spazieren führen. Ihnen ein bisschen Auslauf gönnen. Doch das darf sie nicht, dafür sind die ihren noch zu wild und ungezähmt, sie nagen ununterbrochen an der Leine, die sie ihnen angelegt hat, und wenn sie sie laufen ließe wären sie bestimmt für immer verloren. In diesem grauen Regen. In dieser blanken Stille.
Ihr Handyklingelton zerreißt das Schweigen. Sie liest die Nachricht.
Selbst das spielen der hunde noch ziellos
an diesem tag
geht der blick des jungen
der sie beobachtet
ins nichts
werden die menschen
in parks
zu körpern
Ich wünsche mir jetzt
die augen meiner schwester
die beweise finden
wie detektive
Ich habe nur worte
weiße gipsabdrücke
So trage ich
diesen schweren tag in mir:
die seelen schlafen
die kirchenglocken geben den herzen
den takt
Samstag, 31. Juli 2010
Montag, 26. Juli 2010
Blank
Heute: Schönheit
Nur knapp zwei Wochen später sind das Eis und die Ruhe von ihren Hüften verschwunden. Sie betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht eine schlanke junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine, auf die Innenseite der Oberschenkel, die so rot und feucht waren am Morgen nach ihrem ersten Versuch, wieder Sport zu machen. Doch die junge Ärztin mit den kurzen blonden Haaren und den dunklen Augen hatte ihr versichert, dass alles in Ordnung sei.
Es hatte gut getan, das zu hören.
Alles ist in Ordnung.
Langsam beginnt sie sich anzuziehen, dann sitzt sie an ihrem Schreibtisch. In ihrem Zimmer. In ihren Klamotten. Und atmet diese Münchner Luft, die ihr so widerwärtig vertraut ist.
Selbst die Ärztin, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, war ihr bekannt vorgekommen. Sie erinnert sie an eine Katze.
(Doch das war reiner Zufall.)
Damals wäre sie einfach weggelaufen, wenn sie sich so gefühlt hätte. In eine andere Stadt, in ein anderes Land – vielleicht einfach nur in ein anderes Bett. In einen anderen Zustand.
Heute würde sie sich weigern, Feuer mit Feuer zu bekämpfen und Probleme mit noch größeren Problemen zu überschatten. In ihrem neuen Leben waren Alkohol und Sex keine Protagonisten. (Vielleicht Souffleure?)
Sie denkt noch eine Weile darüber nach, warum Vertrautheit sie abzuschrecken und alle anderen Menschen anzuziehen scheint. Dann denkt sie an die Ärztin. Und sie erinnert sich: Cat. Ihr Herz verkrampft sich.
(Der restliche Tagesverlauf lässt sich rasch zusammenfassen: sie wird sich in voller Kleidung in ihr Bett legen und fünf ganze Die Drei ??? Kassetten am Stück hören, bei der sechsten wird sie einschlafen.)
Damals: Sex
Der Abend, an dem sie in der Jugendherberge in ihrer Kleinstadt im Süden Frankreichs ankam, war so heiß und schwer, dass sie sich fast wie in einem Márquez-Roman fühlte. (Und die Vorahnung trog sie nicht: die Einsamkeit sollte kommen, selbst wenn sie keine hundert Jahre dauern würde.) Erschöpft schleppte sie sich an die Rezeption, erklärte in ihrem gebrochenen Französisch, dass sie ein Bett im Schlafsaal gemietet habe.
Sie brachte ihren Koffer in das Zimmer, setzte sie sich mit ihrem Laptop an die Bar, die zur Herberge gehörte und kostenloses Internet anbot, um sich auf Wohnungssuche zu begeben. Außer ihr war nur noch ein anderes Mädchen an der Bar, es hatte sehr kurze blonde Haare, rauchte und starrte dabei völlig ungeniert das "rauchen verboten“ Schild an. Doch schon bald wanderte sein Blick weg vom Schild und hin zu ihr, wo er verharrte.
Sie begann sich unwohl zu fühlen unter diesem bohrenden Blick und fürchtete sich doch, aufzuschauen und ihn zu erwidern. (Noch eine Vorahnung, die sich bestätigen sollte.)
Das Mädchen stand auf – im Stehen erschien sie viel größer als zuvor noch auf dem Barhocker – und schlenderte zu ihr. Es stützte sich mit dem linken Arm neben ihr auf der Bar ab. Es roch gut.
Vorsichtig hob sie nun doch den Blick vom Bildschirm und sah der Anderen ins Gesicht. Hinter langen blonden Wimpern lauerten dunkle Katzenaugen.
„Du suchst nach einer Wohnung?“
„Ja.“
„WG?“
„Ja.“
„Ich habe eine Wohnung für dich. 180€ inklusive Nebenkosten.“
„Ah...“
Sie musste lächeln. Frankreich war gut zu ihr. Oder?
„Und warum?“
„Weil das Semester erst in zwei Wochen anfängt, und ich noch jemanden brauche, der für die nächsten zwei Wochen mit mir nach Paris fährt. In der Zeit hast du dann wahrscheinlich wenig Zeit, dir hier eine Wohnung zu suchen.“
Es folgten zwei rauschhafte Wochen, in denen sie halbwach durch Paris taumelten, sich verkleideten, in Theater gingen, in denen ihr Cat (so hatte sie die ihr nach wie vor Unbekannte getauft, und diese hatte gleichmütig zugestimmt) vertrauter wurde als irgendwer sonst, ohne dass sie ihrer überdrüssig wurde. Das muss Liebe sein, dachte sie.
Und das muss Schmerz sein, wusste sie, als Cat verschwand.
Sie blieb noch drei Nächte in der im Voraus bezahlten Herberge und wartete, doch Cat blieb verschwunden. Schließlich fuhr sie zurück, um ihr Studium zu beginnen, und fragte ihren Vermieter über die vertraute Fremde aus, doch der blieb einsilbig.
Sie meinte, ein zweites wundes Herz zu erkennen.
(Sie würde ihn nie wieder darauf ansprechen: er war ein zuverlässiger, hilfreicher Vermieter, nicht allzu aufdringlich. Eine Perle unter den Franzosen. Sie würde sämtliche Vita Sackville-West Biographien lesen, die sie finden konnte, und sie würde die Finger von Frauen lassen.
So begann ihr Jahr in Frankreich mit Wunden Lecken.)
Hier ist alles noch neu
und
fingerabdrucklos rein.
Meine Blicke legen sich
wie Häute
auf die Welt.
Ein leeres Buch
ist vielleicht das Beste,
das je geschrieben wurde.
sagt sie und
küsst mich.
Mit ihren
Glausaugen
und
Nylonhaaren
und
Lippen.
Wenn ich ausatme
beschlägt sie.
Ich werde den roten Faden
und sie verlieren
und weiterblättern
auf lilienweißen Seiten.
Nur knapp zwei Wochen später sind das Eis und die Ruhe von ihren Hüften verschwunden. Sie betrachtet sich im Spiegel. Sie sieht eine schlanke junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine, auf die Innenseite der Oberschenkel, die so rot und feucht waren am Morgen nach ihrem ersten Versuch, wieder Sport zu machen. Doch die junge Ärztin mit den kurzen blonden Haaren und den dunklen Augen hatte ihr versichert, dass alles in Ordnung sei.
Es hatte gut getan, das zu hören.
Alles ist in Ordnung.
Langsam beginnt sie sich anzuziehen, dann sitzt sie an ihrem Schreibtisch. In ihrem Zimmer. In ihren Klamotten. Und atmet diese Münchner Luft, die ihr so widerwärtig vertraut ist.
Selbst die Ärztin, die sie noch nie zuvor gesehen hatte, war ihr bekannt vorgekommen. Sie erinnert sie an eine Katze.
(Doch das war reiner Zufall.)
Damals wäre sie einfach weggelaufen, wenn sie sich so gefühlt hätte. In eine andere Stadt, in ein anderes Land – vielleicht einfach nur in ein anderes Bett. In einen anderen Zustand.
Heute würde sie sich weigern, Feuer mit Feuer zu bekämpfen und Probleme mit noch größeren Problemen zu überschatten. In ihrem neuen Leben waren Alkohol und Sex keine Protagonisten. (Vielleicht Souffleure?)
Sie denkt noch eine Weile darüber nach, warum Vertrautheit sie abzuschrecken und alle anderen Menschen anzuziehen scheint. Dann denkt sie an die Ärztin. Und sie erinnert sich: Cat. Ihr Herz verkrampft sich.
(Der restliche Tagesverlauf lässt sich rasch zusammenfassen: sie wird sich in voller Kleidung in ihr Bett legen und fünf ganze Die Drei ??? Kassetten am Stück hören, bei der sechsten wird sie einschlafen.)
Damals: Sex
Der Abend, an dem sie in der Jugendherberge in ihrer Kleinstadt im Süden Frankreichs ankam, war so heiß und schwer, dass sie sich fast wie in einem Márquez-Roman fühlte. (Und die Vorahnung trog sie nicht: die Einsamkeit sollte kommen, selbst wenn sie keine hundert Jahre dauern würde.) Erschöpft schleppte sie sich an die Rezeption, erklärte in ihrem gebrochenen Französisch, dass sie ein Bett im Schlafsaal gemietet habe.
Sie brachte ihren Koffer in das Zimmer, setzte sie sich mit ihrem Laptop an die Bar, die zur Herberge gehörte und kostenloses Internet anbot, um sich auf Wohnungssuche zu begeben. Außer ihr war nur noch ein anderes Mädchen an der Bar, es hatte sehr kurze blonde Haare, rauchte und starrte dabei völlig ungeniert das "rauchen verboten“ Schild an. Doch schon bald wanderte sein Blick weg vom Schild und hin zu ihr, wo er verharrte.
Sie begann sich unwohl zu fühlen unter diesem bohrenden Blick und fürchtete sich doch, aufzuschauen und ihn zu erwidern. (Noch eine Vorahnung, die sich bestätigen sollte.)
Das Mädchen stand auf – im Stehen erschien sie viel größer als zuvor noch auf dem Barhocker – und schlenderte zu ihr. Es stützte sich mit dem linken Arm neben ihr auf der Bar ab. Es roch gut.
Vorsichtig hob sie nun doch den Blick vom Bildschirm und sah der Anderen ins Gesicht. Hinter langen blonden Wimpern lauerten dunkle Katzenaugen.
„Du suchst nach einer Wohnung?“
„Ja.“
„WG?“
„Ja.“
„Ich habe eine Wohnung für dich. 180€ inklusive Nebenkosten.“
„Ah...“
Sie musste lächeln. Frankreich war gut zu ihr. Oder?
„Und warum?“
„Weil das Semester erst in zwei Wochen anfängt, und ich noch jemanden brauche, der für die nächsten zwei Wochen mit mir nach Paris fährt. In der Zeit hast du dann wahrscheinlich wenig Zeit, dir hier eine Wohnung zu suchen.“
Es folgten zwei rauschhafte Wochen, in denen sie halbwach durch Paris taumelten, sich verkleideten, in Theater gingen, in denen ihr Cat (so hatte sie die ihr nach wie vor Unbekannte getauft, und diese hatte gleichmütig zugestimmt) vertrauter wurde als irgendwer sonst, ohne dass sie ihrer überdrüssig wurde. Das muss Liebe sein, dachte sie.
Und das muss Schmerz sein, wusste sie, als Cat verschwand.
Sie blieb noch drei Nächte in der im Voraus bezahlten Herberge und wartete, doch Cat blieb verschwunden. Schließlich fuhr sie zurück, um ihr Studium zu beginnen, und fragte ihren Vermieter über die vertraute Fremde aus, doch der blieb einsilbig.
Sie meinte, ein zweites wundes Herz zu erkennen.
(Sie würde ihn nie wieder darauf ansprechen: er war ein zuverlässiger, hilfreicher Vermieter, nicht allzu aufdringlich. Eine Perle unter den Franzosen. Sie würde sämtliche Vita Sackville-West Biographien lesen, die sie finden konnte, und sie würde die Finger von Frauen lassen.
So begann ihr Jahr in Frankreich mit Wunden Lecken.)
Hier ist alles noch neu
und
fingerabdrucklos rein.
Meine Blicke legen sich
wie Häute
auf die Welt.
Ein leeres Buch
ist vielleicht das Beste,
das je geschrieben wurde.
sagt sie und
küsst mich.
Mit ihren
Glausaugen
und
Nylonhaaren
und
Lippen.
Wenn ich ausatme
beschlägt sie.
Ich werde den roten Faden
und sie verlieren
und weiterblättern
auf lilienweißen Seiten.
Samstag, 24. Juli 2010
Honigtage
Damals: Seele
Vor annähernd zwei Jahren: der schottische Herbst hatte ihre Sinne versiegelt. Sie sah nichts außer wilden Wolken, sie roch nichts außer feuchtes Laub, sie hörte nichts außer wütenden Stürmen, sie schmeckte nichts außer tanzendes Meer, sie fühlte nichts außer eine nahezu schmerzhaften Liebe zu diesem zornigen Land. Sie wusste, dass diese Liebe unerwidert bleiben und der Wind nie aufhören sollte, ihr unsanft ins Haar zu greifen, daran zu reißen und sie anzubrüllen.
(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Masochisten.)
Ganze Tage verstrichen, an denen sie so durch ihre Stadt lief, die Seele zum Überlaufen voll mit Sehnsucht und einem zaghaften, fragilen Glück, das bereits die Trennung fürchtete. So erfüllt war sie von diesem Gefühl, dass die Menschen, die sich flüchtig wie Vögel in ihrem Herzen eingenistet hatten, keinen Platz mehr fanden und empört zwitschernd und zunehmend wütend und müde um sie herumflatterten, einen neuen Rastplatz suchend. Sie war zeitweise unerreichbar für die Außenwelt, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.
(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Sadisten.)
Sie und der schottische Herbst: die Geschichte einer großen Liebe. Auch der milde Inselwinter sollte gut zu ihr sein, ebenso wie der schlaftrunkene alkoholbeschwingte immerlächelnde Frühling.
Vor annähernd einem Jahr: Es gabTränen, als der französische Sommer sie auseinanderriss und zu ersticken drohte. Der französische Herbst machte sich nicht einmal die Mühe einer Aufwartung, der Winter hielt sie in einem eisernen eiskalten Würgegriff, den nicht einmal warme Betten und weiche Arme zu sprengen vermochten. Der Frühling brachte nichts als Hoffnung. Und einen dunklen Engländer.
Heute: Verstand
Das lange Liegen, das Eis und der Whisky werden langsam an verschiedenen Stellen ihres eigentlich schlanken Körpers sichtbar. Sie steht vor dem Spiegel, lange, und sieht sich nicht. Sie sieht den Engländer, der sie betrachtet. Damals. Der sie ignoriert. Heute.
Das Bild verschwimmt und sie sieht nun eine leicht rundliche junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine. Die Leere sitzt nicht mehr dort, sie ist in ihre Brust gewandert. Obwohl die vom Arzt empfohlene Ruhefrist noch nicht abgelaufen ist, geht sie laufen, für eine halbe Stunde. Davon denkt sie 27 Minuten lang an ihn, zwei Minuten lang an die Brüder, eine Minute lang an das Ziehen in ihrem Unterleib, das gegen Ende wieder auftritt.
Sie sperrt ihre Wohnung auf. Sie duscht sich. (Sie denkt an ihn.) Sie macht sich einen Salat. Sie sieht sich einen Film an. (Snatch – sie denkt an ihn.) Sie schenkt sich ein Glas Whisky ein und liest. (Jane Eyre – sie denkt an Schottland.)
Die Tage mit dir im Kopf
sind Honig.
Sie fließen langsam und schmecken
klebrig.
Niemals sehe ich hinter deine Augen oder
die Sonne.
Zähe Fäden machen meinen Körper träge.
Goldene Spinnennetze
in schwarzen Kammern
halten mich gefangen für
süße Ewigkeiten.
Irgendwann krieche ich durch die hellen Spalten
in der Jalousien
und bleibe nicht stecken.
Vor annähernd zwei Jahren: der schottische Herbst hatte ihre Sinne versiegelt. Sie sah nichts außer wilden Wolken, sie roch nichts außer feuchtes Laub, sie hörte nichts außer wütenden Stürmen, sie schmeckte nichts außer tanzendes Meer, sie fühlte nichts außer eine nahezu schmerzhaften Liebe zu diesem zornigen Land. Sie wusste, dass diese Liebe unerwidert bleiben und der Wind nie aufhören sollte, ihr unsanft ins Haar zu greifen, daran zu reißen und sie anzubrüllen.
(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Masochisten.)
Ganze Tage verstrichen, an denen sie so durch ihre Stadt lief, die Seele zum Überlaufen voll mit Sehnsucht und einem zaghaften, fragilen Glück, das bereits die Trennung fürchtete. So erfüllt war sie von diesem Gefühl, dass die Menschen, die sich flüchtig wie Vögel in ihrem Herzen eingenistet hatten, keinen Platz mehr fanden und empört zwitschernd und zunehmend wütend und müde um sie herumflatterten, einen neuen Rastplatz suchend. Sie war zeitweise unerreichbar für die Außenwelt, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.
(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Sadisten.)
Sie und der schottische Herbst: die Geschichte einer großen Liebe. Auch der milde Inselwinter sollte gut zu ihr sein, ebenso wie der schlaftrunkene alkoholbeschwingte immerlächelnde Frühling.
Vor annähernd einem Jahr: Es gabTränen, als der französische Sommer sie auseinanderriss und zu ersticken drohte. Der französische Herbst machte sich nicht einmal die Mühe einer Aufwartung, der Winter hielt sie in einem eisernen eiskalten Würgegriff, den nicht einmal warme Betten und weiche Arme zu sprengen vermochten. Der Frühling brachte nichts als Hoffnung. Und einen dunklen Engländer.
Heute: Verstand
Das lange Liegen, das Eis und der Whisky werden langsam an verschiedenen Stellen ihres eigentlich schlanken Körpers sichtbar. Sie steht vor dem Spiegel, lange, und sieht sich nicht. Sie sieht den Engländer, der sie betrachtet. Damals. Der sie ignoriert. Heute.
Das Bild verschwimmt und sie sieht nun eine leicht rundliche junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine. Die Leere sitzt nicht mehr dort, sie ist in ihre Brust gewandert. Obwohl die vom Arzt empfohlene Ruhefrist noch nicht abgelaufen ist, geht sie laufen, für eine halbe Stunde. Davon denkt sie 27 Minuten lang an ihn, zwei Minuten lang an die Brüder, eine Minute lang an das Ziehen in ihrem Unterleib, das gegen Ende wieder auftritt.
Sie sperrt ihre Wohnung auf. Sie duscht sich. (Sie denkt an ihn.) Sie macht sich einen Salat. Sie sieht sich einen Film an. (Snatch – sie denkt an ihn.) Sie schenkt sich ein Glas Whisky ein und liest. (Jane Eyre – sie denkt an Schottland.)
Die Tage mit dir im Kopf
sind Honig.
Sie fließen langsam und schmecken
klebrig.
Niemals sehe ich hinter deine Augen oder
die Sonne.
Zähe Fäden machen meinen Körper träge.
Goldene Spinnennetze
in schwarzen Kammern
halten mich gefangen für
süße Ewigkeiten.
Irgendwann krieche ich durch die hellen Spalten
in der Jalousien
und bleibe nicht stecken.
Dienstag, 6. Juli 2010
Whisky
Heute: Vorurteil
Sie betritt die Bar direkt am Gärtnerplatz, der winzige Raum ist lichtdurchflutet. Und in der Mitte ganz in Weiß: "Liebste!"
Sie küsst ihre Freundin und sie setzen sich an den einzigen freien Tisch. Es dauert, bis sie bestellen können, beide wählen Whisky. (Jack Daniel's Black Label - die Auswahl ist begrenzt.)
Ihre Freundin, die Smalltalk und Höflichkeiten wann immer es geht vermeidet, fragt gerade heraus: "Der erste Abend, den du nicht allein im Bett verbringst - warum sind wir hier?"
Zu müde, eine ganze Renaissance zu erklären, antwortet sie nur: "Der Engländer hat nicht geschrieben."
"Das ist keine Antwort auf meine Frage!"
Stille.
"Oder?"
Der Whisky kommt.
"Das ist eine Antwort auf deine letzte Frage und auf deine nächste Frage: wie ich mich fühle. Wir sind hier, weil ich hier absolut niemanden kenne und weil keine Lust mehr habe ins Pub zu gehen und die Zwillinge zu sehen. Ich kann nicht ununterbrochen austeilen, um garantiert niemals einzustecken. Ich bin zu müde für Spielchen. Ich bin zu müde für Präventivkrieg."
Nochmals Stille. Dann:
"Einverstanden. Die Zwillinge haben Auszeit. Gib mir dein Handy, wir schreiben dem Engländer. Damit du aufwachst."
Sie lächelte und hob ihr Glas. "Auf die Wahrheit."
Damals: Stolz
Sie betrat das Pub, die so seltsam an der Ecke eines Hauses gelegen und damit pfeilförmig war, die trotz ihrer Fensterreihen an zwei von drei Seiten dunkler schien als so mancher Keller: schwere Fässer und Whiskyflaschen lauerten in den Fensternischen und schluckteen gierig das Tageslicht. Ohne sich umzusehen ging sie an die Bar und setzte sich, sie wusste, dass ihre Freunde noch nicht da sein konnten, schließlich war sie eine gute Viertelstunde vor der verabredeten Zeit erschienen. Das gab ihr mindestens eine halbe Stunde bis ihre verläßlich verspäteten Schotten eintreffen würden. Wie immer.
Noch bevor sie sich richtig gesetzt hat stand ein Glas Whisky vor ihr und der Barkeeper sagte ohne sie anzusehen: "Zu früh kommen ist unhöflich, Germany."
Steilvorlage. Sie antwortete grinsend: "Das ist genetisch. Aber mit guter Gesellschaft vergeht das Warten wie im Flug, meinst du nicht, Heathcliff?"
Ohne auch nur den Anflug eines Lächelns erwiderte dieser: "Du hast gut reden, dieses Gespräch ist bestimmt leichter zu ertragen mit einem Ardbeg in der Hand und in der Kehle. Und hör auf mich Heathcliff zu nennen."
Sie lächelte nur und freute sich auf die kommenden Minuten. Kaum etwas machte sie so glücklich wie ein Mann, der schwer zu erobern war. Sie hatte Heathcliff (dessen echten Namen sie zwar eines Abends erfragt aber nach etwas Pech im Trinkspiel am nächsten Morgen vergessen hatte) nun schon knapp drei Monate bearbeitet. Er war reif. Sie sah es in den verstohlenen Blicken, die er ihr zuwarf, wenn er dachte sie bemerke es nicht, und an den unnötig schroffen Antworten, die er seinen Kollegen und den Pubgästen gab, wenn sie nach ihr fragten. Am klarsten sah sie es in den giftigen Blicken, die eine ganz bestimmte Kollegin Heathcliffs ihr oft zuwarf.
Sie wusste: bald war es soweit.
(Was sie nicht wusste: schon heute Abend sollte er sie und ihre Freunde nach der letzten Runde zum Bleiben einladen. Er sollte ihr in einem ruhigen Gespräch zum ersten Mal direkt in die Augen sehen und sie nicht mehr Germany nennen. Sie sollten überstürzt ins Büro gehen und halbnackt auf den Abrechnungen entdeckt werden. Er sollte seinen Job behalten dürfen, sie sollten zwei Tage später beenden was sie an diesem Abend angefangen hatten, in ihrem Bett, ohne Unterbrechung, aber auch ohne Cathy.)
Wir passen immer nur so gut
wie deine Faust
auf mein Auge.
Ich biete
eine rote Schweißperle
gegen hundert goldene Blicke.
Damals
war Herzblut noch
mehr als nur Farbstoff.
Heute
sind es
Versprechen mit Sollbruchstelle.
Die Zeit vergeht langsam
unter Samthäuten.
Hoffnungen sterben
zuletzt
warte ich auf einen Heathcliff,
der mich unsterblich macht.
Sie betritt die Bar direkt am Gärtnerplatz, der winzige Raum ist lichtdurchflutet. Und in der Mitte ganz in Weiß: "Liebste!"
Sie küsst ihre Freundin und sie setzen sich an den einzigen freien Tisch. Es dauert, bis sie bestellen können, beide wählen Whisky. (Jack Daniel's Black Label - die Auswahl ist begrenzt.)
Ihre Freundin, die Smalltalk und Höflichkeiten wann immer es geht vermeidet, fragt gerade heraus: "Der erste Abend, den du nicht allein im Bett verbringst - warum sind wir hier?"
Zu müde, eine ganze Renaissance zu erklären, antwortet sie nur: "Der Engländer hat nicht geschrieben."
"Das ist keine Antwort auf meine Frage!"
Stille.
"Oder?"
Der Whisky kommt.
"Das ist eine Antwort auf deine letzte Frage und auf deine nächste Frage: wie ich mich fühle. Wir sind hier, weil ich hier absolut niemanden kenne und weil keine Lust mehr habe ins Pub zu gehen und die Zwillinge zu sehen. Ich kann nicht ununterbrochen austeilen, um garantiert niemals einzustecken. Ich bin zu müde für Spielchen. Ich bin zu müde für Präventivkrieg."
Nochmals Stille. Dann:
"Einverstanden. Die Zwillinge haben Auszeit. Gib mir dein Handy, wir schreiben dem Engländer. Damit du aufwachst."
Sie lächelte und hob ihr Glas. "Auf die Wahrheit."
Damals: Stolz
Sie betrat das Pub, die so seltsam an der Ecke eines Hauses gelegen und damit pfeilförmig war, die trotz ihrer Fensterreihen an zwei von drei Seiten dunkler schien als so mancher Keller: schwere Fässer und Whiskyflaschen lauerten in den Fensternischen und schluckteen gierig das Tageslicht. Ohne sich umzusehen ging sie an die Bar und setzte sich, sie wusste, dass ihre Freunde noch nicht da sein konnten, schließlich war sie eine gute Viertelstunde vor der verabredeten Zeit erschienen. Das gab ihr mindestens eine halbe Stunde bis ihre verläßlich verspäteten Schotten eintreffen würden. Wie immer.
Noch bevor sie sich richtig gesetzt hat stand ein Glas Whisky vor ihr und der Barkeeper sagte ohne sie anzusehen: "Zu früh kommen ist unhöflich, Germany."
Steilvorlage. Sie antwortete grinsend: "Das ist genetisch. Aber mit guter Gesellschaft vergeht das Warten wie im Flug, meinst du nicht, Heathcliff?"
Ohne auch nur den Anflug eines Lächelns erwiderte dieser: "Du hast gut reden, dieses Gespräch ist bestimmt leichter zu ertragen mit einem Ardbeg in der Hand und in der Kehle. Und hör auf mich Heathcliff zu nennen."
Sie lächelte nur und freute sich auf die kommenden Minuten. Kaum etwas machte sie so glücklich wie ein Mann, der schwer zu erobern war. Sie hatte Heathcliff (dessen echten Namen sie zwar eines Abends erfragt aber nach etwas Pech im Trinkspiel am nächsten Morgen vergessen hatte) nun schon knapp drei Monate bearbeitet. Er war reif. Sie sah es in den verstohlenen Blicken, die er ihr zuwarf, wenn er dachte sie bemerke es nicht, und an den unnötig schroffen Antworten, die er seinen Kollegen und den Pubgästen gab, wenn sie nach ihr fragten. Am klarsten sah sie es in den giftigen Blicken, die eine ganz bestimmte Kollegin Heathcliffs ihr oft zuwarf.
Sie wusste: bald war es soweit.
(Was sie nicht wusste: schon heute Abend sollte er sie und ihre Freunde nach der letzten Runde zum Bleiben einladen. Er sollte ihr in einem ruhigen Gespräch zum ersten Mal direkt in die Augen sehen und sie nicht mehr Germany nennen. Sie sollten überstürzt ins Büro gehen und halbnackt auf den Abrechnungen entdeckt werden. Er sollte seinen Job behalten dürfen, sie sollten zwei Tage später beenden was sie an diesem Abend angefangen hatten, in ihrem Bett, ohne Unterbrechung, aber auch ohne Cathy.)
Wir passen immer nur so gut
wie deine Faust
auf mein Auge.
Ich biete
eine rote Schweißperle
gegen hundert goldene Blicke.
Damals
war Herzblut noch
mehr als nur Farbstoff.
Heute
sind es
Versprechen mit Sollbruchstelle.
Die Zeit vergeht langsam
unter Samthäuten.
Hoffnungen sterben
zuletzt
warte ich auf einen Heathcliff,
der mich unsterblich macht.
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