Samstag, 24. Juli 2010

Honigtage

Damals: Seele


Vor annähernd zwei Jahren: der schottische Herbst hatte ihre Sinne versiegelt. Sie sah nichts außer wilden Wolken, sie roch nichts außer feuchtes Laub, sie hörte nichts außer wütenden Stürmen, sie schmeckte nichts außer tanzendes Meer, sie fühlte nichts außer eine nahezu schmerzhaften Liebe zu diesem zornigen Land. Sie wusste, dass diese Liebe unerwidert bleiben und der Wind nie aufhören sollte, ihr unsanft ins Haar zu greifen, daran zu reißen und sie anzubrüllen.

(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Masochisten.)

Ganze Tage verstrichen, an denen sie so durch ihre Stadt lief, die Seele zum Überlaufen voll mit Sehnsucht und einem zaghaften, fragilen Glück, das bereits die Trennung fürchtete. So erfüllt war sie von diesem Gefühl, dass die Menschen, die sich flüchtig wie Vögel in ihrem Herzen eingenistet hatten, keinen Platz mehr fanden und empört zwitschernd und zunehmend wütend und müde um sie herumflatterten, einen neuen Rastplatz suchend. Sie war zeitweise unerreichbar für die Außenwelt, von einigen wenigen Ausnahmen einmal abgesehen.

(Es gibt ein Wort für solche Menschen: Sadisten.)

Sie und der schottische Herbst: die Geschichte einer großen Liebe. Auch der milde Inselwinter sollte gut zu ihr sein, ebenso wie der schlaftrunkene alkoholbeschwingte immerlächelnde Frühling.

Vor annähernd einem Jahr: Es gabTränen, als der französische Sommer sie auseinanderriss und zu ersticken drohte. Der französische Herbst machte sich nicht einmal die Mühe einer Aufwartung, der Winter hielt sie in einem eisernen eiskalten Würgegriff, den nicht einmal warme Betten und weiche Arme zu sprengen vermochten. Der Frühling brachte nichts als Hoffnung. Und einen dunklen Engländer.



Heute: Verstand

Das lange Liegen, das Eis und der Whisky werden langsam an verschiedenen Stellen ihres eigentlich schlanken Körpers sichtbar. Sie steht vor dem Spiegel, lange, und sieht sich nicht. Sie sieht den Engländer, der sie betrachtet. Damals. Der sie ignoriert. Heute.

Das Bild verschwimmt und sie sieht nun eine leicht rundliche junge Frau. Sie starrt zwischen ihre Beine. Die Leere sitzt nicht mehr dort, sie ist in ihre Brust gewandert. Obwohl die vom Arzt empfohlene Ruhefrist noch nicht abgelaufen ist, geht sie laufen, für eine halbe Stunde. Davon denkt sie 27 Minuten lang an ihn, zwei Minuten lang an die Brüder, eine Minute lang an das Ziehen in ihrem Unterleib, das gegen Ende wieder auftritt.

Sie sperrt ihre Wohnung auf. Sie duscht sich. (Sie denkt an ihn.) Sie macht sich einen Salat. Sie sieht sich einen Film an. (Snatch – sie denkt an ihn.) Sie schenkt sich ein Glas Whisky ein und liest. (Jane Eyre – sie denkt an Schottland.)

Die Tage mit dir im Kopf
sind Honig.
Sie fließen langsam und schmecken
klebrig.

Niemals sehe ich hinter deine Augen oder
die Sonne.
Zähe Fäden machen meinen Körper träge.

Goldene Spinnennetze
in schwarzen Kammern
halten mich gefangen für
süße Ewigkeiten.

Irgendwann krieche ich durch die hellen Spalten
in der Jalousien
und bleibe nicht stecken.


2 Kommentare:

  1. Deine Art zu schreiben ist wirklich arg schön. Besonders gefällt mir das, mit der nicht vorhanden Leere zwischen den Beinen sondern in der Brust! <3

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  2. Es freut mich sehr, dass es dir gefaellt. Danke fuers Lesen und fuer deinen Kommentar. Liebe Gruesse

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