Samstag, 31. Juli 2010

Sonntag

Damals: Luft holen

Am Ende hatte sie die französischen Sonntage lieben gelernt. Sie waren so viel stiller als die schottischen und weniger träge als die deutschen. Sie hielten ihre Hand, die so müde war vom stumpfen Mitschreiben der Diktate ihrer Professoren und strichen ihr über die erschöpften Augenlider. Die schwere Luft summte von Wiegenliedern.

Sie ging jeden Sonntag auf den Markt, der direkt um die Ecke lag, und kaufte ein wenig Obst und Gemüse, manchmal Käse und Eier. Sie hätte an jedem anderen Wochentag genauso gut einkaufen gehen können, doch sie liebte die Marktsonntage, an denen panische Franzosen in Scharen einfielen, sämtliche legalen und illegalen Parkplätze belegten und hektisch so viel an Feinkost einkauften, wie sie in ihrem Kofferraum verstauen konnten – stets mit der Furcht im Nacken, sie könnten gerade an diesem Tag, an dem man außer Essen ohnehin nicht viel unternehmen konnte, nicht genug frische Köstlichkeiten im Kühlschrank haben. Sie mochte auch die Marktschreier, die das Geschäft witterten und die allgemeine Kauflust auszunutzen suchten, indem sie sich lauthals und streitlustig gegenseitig an Preisen unter- und an Qualität überboten.
Sie trat an ihren bevorzugten Stand und die Besitzer (drei Männer aus drei Generationen) erspähten sie sofort. Der Mittlere holte eine frische Kiste Erdbeeren aus dem Lastwagen, die der Ältere ihr sofort zum Probieren aufdrängte. Nachdem sie sich die schönsten Exemplare ausgesucht und in eine Papiertüte gepackt hatte, verschwand die Kiste mit ausgewählt schönen Erdbeeren wieder im Wagen. Obwohl sie Erdbeeren nicht einmal sehr schätzte, so hatte sie dieses Ritual doch lieb gewonnen und freute sich auch über die neidischen Blicke der anderen Marktbesucher.

Sie stellte sich in die Schlange an der Kasse und betrachtete neugierig ein grünes Gemüse, das ihr völlig unbekannt war. Lange, dicke Stängel mit feinen, großen Blättern, vereinzelt grüne Knollen, die Blütenknospen sein mochten.
„Cima!“ hörte sie hinter sich. Dort stand eine breit lächelnde dunkelhäutige Frau, die nun ein Blatt des seltsamen Gewächses abriss und ihr zum Probieren hinhielt. Ungefragt fuhr sie fort: „In Salzwasser bissfest kochen, dann abgießen, ein wenig Kochwasser auffangen und mit Spaghetti und ein wenig Olivenöl servieren.“
Sie nickte und nahm sich eine Handvoll des grünen Krauts heraus, doch die Frau hielt sie auf. „Die Knospen sind das Beste. Suchen Sie die Knospen.“

Genau das tat sie und wenig später hatte sie eine dampfende Schüssel Spaghetti mit Cima vor sich, eine einfache Mahlzeit, die ihr eine einfache Frau in diesem alles andere als einfachen Land empfohlen hatte und die ihren langsamen Sonntag perfekt machen sollte.


Heute: Luft anhalten

Sie ist an diesem Sonntag um vier Uhr morgens von der Arbeit heim gekommen und sieben Stunden später wieder aufgewacht. Abgesehen von den Arbeitszeiten hat sie nichts gegen ihren Sommerjob und ist regelrecht froh, dass sie nach ihrer vorgeschriebenen Ruhephase wieder etwas tun kann, was sie von all den Männern und Frauen in ihrem Kopf ablenkt.
Besagter Kopf und vor allem die Haare darauf sind noch immer feucht, nachdem sie auf dem Heimweg von einem der unberechenbaren Sommergewitter überrascht worden war. Es regnet immer noch.

Sie schleppt sich in die Küche, wo sie feststellen muss, dass sie vergessen hat einzukaufen. Das Frühstück besteht also aus Kaffee. Sie liest lustlos die Wochenendausgabe der Zeitung. Es regnet immer noch.

Schließlich duscht sie, zieht sich an, greift sich einen Regenschirm und wagt sich hinaus. Für einen Tag wie diesen sind überraschend viele Menschen im englischen Garten, die meisten Hundebesitzer, alle Singles. Es ist so unnatürlich still, dass sie plötzlich wünschte, sie hätte einen MP3 Player mitgenommen, um ihre eigenen Gedanken nicht so laut hören zu müssen.
Das machen hier wahrscheinlich alle, denkt sie. Ihre Gedanken spazieren führen. Ihnen ein bisschen Auslauf gönnen. Doch das darf sie nicht, dafür sind die ihren noch zu wild und ungezähmt, sie nagen ununterbrochen an der Leine, die sie ihnen angelegt hat, und wenn sie sie laufen ließe wären sie bestimmt für immer verloren. In diesem grauen Regen. In dieser blanken Stille.

Ihr Handyklingelton zerreißt das Schweigen. Sie liest die Nachricht.


Selbst das spielen der hunde noch ziellos

an diesem tag

geht der blick des jungen
der sie beobachtet
ins nichts

werden die menschen
in parks
zu körpern

Ich wünsche mir jetzt
die augen meiner schwester
die beweise finden
wie detektive

Ich habe nur worte
weiße gipsabdrücke

So trage ich
diesen schweren tag in mir:

die seelen schlafen
die kirchenglocken geben den herzen
den takt

5 Kommentare:

  1. Deine letzten Post's haben mir zwar einen Tick besser gefallen (warn vom stil her irgendwie anders), aber es ist immernoch sehr, sehr schön was und wie du schreibst!
    (Ist "Kritik" eigtl. erlaubt?)

    Liebe Grüße, Juliet.

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  2. Kritik ist erlaubt und erwünscht. Ich will ein paar Texte zu den Gedichten ausprobieren und sehen, ob es besser ist, sich eher unbestimmt auszudrücken (was dir bei den ersten Posts scheinbar besser gefallen hat) oder ob es sinnvoller ist, konkreter zu werden.
    Also, ich freue mich auf Hinweise und Vorschläge!

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  3. deine Texte sind sehr tröstlich. man fühlt sich umarmt.

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  4. Ja, genau das ist es. Du hast dich zwar in den letzten posts eher vage ausgedrückt, aber man hat trotzdem finde ich immer sehr gut verstanden, was du damit sagen wolltest und es hat gleichzeitig aber auch ein bisschen mehr freiraum für die eigene Phantasie gelassen. Mir persönlich gefallen solche texte eben besser, aber ich glaube das ist auch Ansichtssache! Wie alles eben ;)

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  5. sophia: Schön, wenn es dir beim Lesen so geht - mir geht es beim Schreiben ähnlich.

    Juliet: Wie gesagt, das sind ein paar kleine Experimente und jede Art von Feedback hilft mir, also vielen Dank dafür. Ich hoffe, dass ich auf lange Sicht herausfinde, was gut klappt und was ich lieber lassen sollte.

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