Montag, 30. August 2010

Poesie

Jetzt: Senkung


Sie steigt aus dem Zug. Der Alltag hat sie schon am Gleis erwartet. Er stürzt auf sie zu. Er fällt ihr um den Hals. Er verbeißt sich in ihren Nacken.

Sie gehört nicht zu den Menschen, die nicht allein sein können. Im Gegenteil, Gesellschaft, vor allem die permanente Gesellschaft einer einzelnen Person, ist ihr oft lästig oder unangenehm. Doch gerade heute, auf dem Weg zu ihrer Wohnung wird ihr schwindelig bei der Aussicht auf einen ganzen Tag allein unter ihrer Glasglocke – knapp vierundzwanzig Stunden bevor sie wieder einer sinnvollen Beschäftigung, ihrer Arbeit, nachgehen und einigen völlig sinnfremden Unterhaltungen beitreten kann.

Die Wände der Glasglocke werfen Echos hin und her, der leere Raum wird zur Bühne für ihre Gedanken. Gedanken an ihr neues Leben, das innerhalb von wenigen Wochen zu ihrem alten Leben wurde. In dem sie verloren in einem Wald von Flaschen aller Art, Form und Farbe umherirrt und sich zitternd an Körpern wärmt. In dem es keine Moral, keine Werte gibt, die sie an der Hand nehmen und führen. In dem Nietzsche ihr zuflüstert, dass sie nichts falsch macht, nichts falsch machen kann.
Die Leere zwischen den Beinen ihres neuen Körpers wurde gefüllt. Sie hat sich in ihrem alten Leben verlaufen.

Zuhause angekommen öffnet sie einen Gedichtband von Carol Ann Duffy und einen Wein, den sie in Brügge gekauft hat. Sofort wird sie ruhiger. Wenn man Momente konservieren könnte, denkt sie. Zwischen Buchseiten gepresst oder in Alkohol eingelegt. Für die Ewigkeit.


Heute will ich
dir nur ganz sanft
die Hand auflegen
und dir zuflüstern
bis du mit einem Seufzer
und aufhörst zu schlagen
mein Herz

Heute war ein Regen
mein Herz
Mohnblumen starben
mein Herz
ich sah sie
mit ihren gebrochenen Hälsen
mit ihren zerfetzten Pergamentblüten
rote Feen mit verrenkten Gliedern

Vielleicht wird ein Regen kommen
der dich bleich wäscht
mein Herz

Heute will ich
dich ganz vorsichtig
in den Schlaf singen
und lächeln
weil du nicht einmal weißt
dass du einen Schatten hast
weil du dich erschrickst
vor diesem unbekannten Schatten
und wenn es still wird
lege ich dich zwischen
Buchseiten
mein Herz
ich bewahre dich
für immer




Damals: Hebung


Der Ire war bald vergessen. Es gab genug zu entdecken in ihrem Leben, das ohnehin zum Überlaufen gefüllt war mit Sonnenstrahlen, die sich in ihrem Wald von Flaschen aller Art, Form und Farbe verfingen und brachen und sie ins Unterholz lockten. In dem Nietzsche ihr zuflüstert, dass sie nichts falsch machte, nichts falsch machen konnte.

Es gab die Momente (die sie, ganz nebenbei, nicht konservieren wollte) in denen sie sich gedankenverloren an einer Glasscherbe schnitt. Die Momente, in denen ein Regen fiel wie der, in dem sie damals ihr Fahrrad heimgefahren hatte. Oder in denen die Musik gespielt wurde, die sie gehört hatte als sie sich nachts aus seiner Wohnung gestohlen und heim gelaufen war.
Doch diese Schnitte behandelte sie mit Rae Armantrout und sie heilten schnell. Und es ging weiter.


Lieben lieben lieben
durch die Nacht durch den Tag durch die Nacht

Schweißperlen
Schnecken
kriechen träge über meine Haut

trocknen
klebrige Spuren
Salzkristalle

Grabsteine
einer Leidenschaft

Am Ende
bleibt nur
ganz still und heimlich
das vergessene Fahrrad
abzuholen
und heimzufahren
im Regen

Leben leben leben
den nächsten Tag die nächste Nacht das und so weiter

Samstag, 21. August 2010

Weiterspielen

Damals: Verlieren

Der Wolf schlich sich aus ihrem Leben. (Das war erst vorgestern, doch es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.)
Nachdem die letzten Tropfen ihres Blutes aufgeleckt, die letzten Tränen getrunken waren, verschwand er so ruhig und gelassen, wie er erschienen war. Sie saß fassungslos in dem zerwühlten Doppelbett, das sie in den letzten Tagen kaum verlassen hatte, und sah ihn stumm an.

Ihre geweiteten Pupillen sahen aus wie Bojen, die verloren im Meer tanzten, dachte er. Doch das sagte er nicht. Er sagte: „Ich komme am späten Nachmittag wieder. Bitte geh bis dahin.“

Deutsch ist eine harte Sprache, dachte sie. So konkret. So genau. Doch das sagte sie nicht. Sie sagte gar nichts. Sie verfolgte ihn mit ihren Augen, in denen Bojen tanzten, und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, rissen sie sich los und schwammen davon.

Vierundzwanzig Stunden lang kreisten ihre einsamen Gedanken um die deutsche Sprache und um graue Wölfe. Sie aß zu wenig und trank zu viel. Dann sah sie in den Spiegel.
Von dort starrte sie ein abgemagertes Mädchen mit tiefschwarzen Ringen unter den Augen an. Sie sah genau hin. Doch da waren kein Engländer und kein Zwilling.

Der Wolf hatte sie alle gefressen.

Sie war allein.

Sie atmete tief ein, strich sich über die langen Haare, über die nackten Schultern, und zog sich für die Arbeit an.


Wie es sich anfühlt,
mit dem Abend allein zu sein
und sich langsam
sich selbst anzuvertrauen?

Du wirst lernen
wie eine Mango schmeckt,
wenn du sie ganz allein isst,
und Whisky,
wenn du ihn nicht
von fremden Lippen leckst.

Verbrenne alle Kerzen
und hüte dich
vor Spiegeln im Licht.

Nichts ist klarer und kälter
als eine einsame Nacht
nach Tagen
voller Ja
und Immer.

Am Ende sagen alle,
dass Ehrlichkeit
der blanke Wahnsinn ist
und du wirst dich fragen,
ob du nicht doch wieder
Lügen sammeln willst,
um dein Bett zu polstern,
denn du teilst es mit allen,
nur nie mit dem Schlaf.

Entzünde alle Kerzen
und schlafe mit deinem Spiegelbild.

So fühlt es sich an:
wie Kreise
im Nichts.



Heute: Finden

Am nächsten Morgen macht sie einen kurzen Anruf (Herzrasen), bucht einen Zug für denselben Tag und gibt ihrer Freundin Bescheid, dass sie für zwei Tage verreist. „Zu deinem Ehemann?“ fragt diese nur. Und sie antwortet: „Ich brauche ein bisschen Märchen.“

Sie packt, steigt in den Zug, steigt in Paris um, steigt aus. Es ist Abend.
Sie nimmt den Bus, die Schnellstraße (die nie vermuten lässt, dass man mitten hinein in ein Märchen fährt) entlang, die winzigen Gässchen und Kanäle hindurch.
Die Straßenbeleuchtung ist noch nicht an, es ist noch hell und sogar warm. Sie war noch nie im Sommer in Brügge gewesen.

An einem schmalen hohen beigen Haus hält sie an. Sie klingelt und nimmt die Treppe in den dritten Stock. Im Treppenhaus, dessen durchgetretene, knarzende Holzstufen ihr vertrauter sind als die in ihrem Haus in München, riecht sie es bereits: Muscheln.

Sie betritt die winzige Studentenwohnung als hätte es die letzten vier Monate nicht gegeben, fährt dem jungen Mann, der am Herd steht, durch die Haare, und wirft ihr Gepäck in eine Ecke. „So darling, make yourself at home and tell me all about him. The last time it was a silly little Englishman as far as I remember, how did that end?”

Sie lächelt. Wie viel schöner Englisch klingt, und noch dazu aus dem unbeholfenen Mund eines Belgiers. Ihres „Ehemanns“, wie ihre Freundin ihn nannte. Es ist wahr, dass er einer der wenigen Männer war, die sich über mehrere Jahre hinweg in ihrem Leben halten konnte, doch Sex hatten sie seit ihrer ersten überstürzten Nacht nie wieder gehabt. Einer der Gründe, warum sie stets zu ihm zurückkam, um sich zu erholen.

“First things first sweetheart, I’m absolutely starving but I’ll tell you everything after dinner.“
“As you wish”, antwortete er und sie musste ein Lachen unterdrücken.

Ein Tag in Brügge, ein Tag im Märchen, dachte sie, und schob alle Gedanken an München, die Arbeit, den Wolf, das Danach, von sich.


Ein Tag
in der doppelten Stadt
mit ihren goldenen Mauern
und ihren kristallenen Zwillingen
in den Kanälen

Ein Tag
im sanften Auf und Nieder der Wellen
du schläfst nicht
du bist nur betrunken
von all den Herzen
die du ausgesaugt hast
du schläfst nicht
du atmest all die Sprachen ein
die Zeit zählt hier nichts mehr
sie ist ein sanftes Auf und Nieder
dein Herzschlag zählt nichts mehr
deine Gedanken haben hier
kristallene Zwillinge
in den Kanälen

Das heilige Blut
läuft über deine Lippen
beim Lachen und Schluchzen
die Sprachen sitzen bequem
in deinen Lungen und Ohren
die Einsamkeit gibt es hier nicht mehr
sie versteckt sich hinter Spiegeln
in der doppelten Stadt
für einen Tag
Alle Augen hier deine alle
sind gold gold gold
und sie sehen
kristallklar

Dienstag, 10. August 2010

Spiele

Damals: Höher

Sie war vorsichtiger geworden mit ihren Liebschaften. Auch, wenn das für den geneigten Betrachter nicht so aussehen mochte. Die zahllosen gebrochenen Männeraugen, die eingehenden Anrufe, die entsetzlichen Momente des unverhofften Wiedersehens, die vorwurfsvollen Blicke ihrer Freunde hatten sie ermahnt, dem Spiel etwas mehr Bedeutung zuzugestehen, als sie es bisher getan hatte.

(Nicht zu vergessen, auch wenn sie das nie zugeben würde, der Ire. Und daraus resultierend: ihre gebrochenen Augen im Spiegel, die ausgehenden Anrufe, die entsetzlichen Momente des unverhofften Wiedersehens, die mitleidvollen Blicke ihrer Freunde. Kant schickt seine Hochachtung.)

Gegen Ende ihres Aufenthalts in Schottland erkannte sie ihre Macht und eine Verantwortung, derer sie sich davor nicht völlig bewusst gewesen war. Doch sie sollte nicht nur die richtigen Schlüsse aus dieser Erkenntnis ziehen, denn ihre plötzliche Milde, die Vorsicht, mit der sie nun ihren wechselnden Liebschaften begegnete, war begleitet von Stolz. Dieser Hochmut war es, der ihr nach Schottland jeden Fall nur noch schwerer machen sollte.

(Und Frankreich sollte sie das Fallen lehren. Der richtige Zwilling sollte es perfektionieren. Sie sollte sich nach jedem Fall in noch unerreichbarere Höhen aufschwingen. Bis ihr eine Frau in einem weißen Kittel in einem weißen Raum an einem weißen Tag die Flügel stutzen sollte.
Ihre Renaissance.)


Ich schiebe eine Finsternis vor mir her.
Jeder verirrt sich in ihr.
Man verwechselt mich mit Licht.

Meine Stimme klingt
wie zerbrechende Tongefäße
(niemand wird um acht Uhr morgens
Kaffee aus ihnen trinken).

Mein Herzschlag ist Sturm
(eure Boote sind nie sicher).

Ich öffne deinen Kopf
und säe Fernweh.

Es wird keimen
sobald du in die Sonne stolperst
und Luft holst.



Heute: Tiefer

Die Tage verschwimmen.

Die Nächte werden klarer und reiner. Sie sind beherrscht von den gleichgültig lächelnden Augen des richtigen Zwillings und den gereizt fordernden Augen des falschen Zwillings. So leicht, sie zu unterscheiden.

Die Blicke der Beiden umkreisen sie wie Schäferhunde und treiben sie hierhin und dorthin. Sie ist ein Lamm, verloren in der Dunkelheit, schwankend und mit unsicherem Tritt hastend, fort von ihren dunklen Bewachern.
Sie verirrt sich in fremden Wohnungen und Betten. Sie blutet. (Doch das ist normal, sagt die Ärztin.) Das Blut klebt an ihr, immer, die Männer können es riechen. Die Hunde können es riechen.

Sie sitzt zusammengekauert in der Ecke, in der vor einigen Nächten der Betrunkene saß, und hält still. Irgendwo am anderen Ende des Raumes lauert ein paar dunkler Augen unter ergrauten Brauen. Sie kommen näher. Silberbart setzt sich zu ihr und sie sinkt dankbar an seine Schulter.

(Der Wolf wird gelassen verschmähen, die Hunde zu reißen. Er wird sie nur zu sich nehmen, sie wird sich zu ihm flüchten. Sie wird ihn ihre Wunden lecken lassen. Er wird genüsslich ihr Blut trinken.
Sie wird heilen.)


Irgendwo
in dieser schwarzen tropischen Hitze,
mit ihrer Luft,
die schwerer wiegt
als ein Körper,
mit ihren beißenden,
vertrauten Gerüchen -

Irgendwo dort
liegen wir.
Meine Beine geöffnet
wie ein Auge.

Raubkatzenauge,
lauerndes.

Vielleicht
ist dieses Gefühl im Magen
nur deine Hand,
die meine Eingeweide streichelt
und langsam tiefer wandert.

Bestimmt
ist dieses Pochen im Kopf
nur die Fülle an Namen,
die du mir im Schlaf gibst.

Ich weiß doch:
man soll
schlafende Wölfe wecken.

Und schon

sucht meine gierige Lammzunge
Milch.

Freitag, 6. August 2010

Was Hilft

Jetzt: Weggehen

Das neue Leben verschwimmt vor ihren Augen, mit jeden Schluck Bier wird es undeutlicher. Da ist wieder der Weichzeichner, der sich so gnädig über Lichter und Geräusche legt und ihr ein seliges Lächeln aufs Gesicht malt. Den sie so vermisst hat in ihrem neuen Leben. Den sie so gefürchtet hat in ihrem alten Leben.

("Sucht: das triebhafte, durch Vernunftgründe nicht einzudämmende Begehren, sich Lust zu verschaffen (Unlust zu vertreiben); das Bestreben, das Lusterlebnis zu wiederholen, sobald die Wirkung des vorangegangenen nachzulassen beginnt; die Neigung, diesem Lustgewinn den obersten Rang einzuräumen, ihm alle anderen Lebensziele unterzuordnen. Kein Mensch ist hiernach völlig frei von S." Der große Brockhaus, Elfter Band, Sechzehnte Auflage, F. A. Brockhaus Wiesbaden, 1957)

Sie ist noch nicht allzu betrunken, doch das Lächeln des falschen Zwillings ist ein Sog in dem schlecht beleuchteten Pub, sie fragt sich ob sich wohl gerade ihr Gesicht ablöst, ob ihre Augen zuerst geschluckt werden von diesem Strudel, ob er an ihren Haaren zieht und sie schließlich gänzlich einsaugt, Kopf voran –

„Welcher ist das?“ fragt ihre Freundin nun, und sie sagt nur: „Der Falsche.“ „Schade. Beziehungsweise egal. Der Richtige steht ja eh nicht auf dich. Und außer dir sieht keiner einen Unterschied zwischen den beiden.“

Prompt kommt er hinter der Bar hervor und auf die beiden Mädchen zu, um sie zu begrüßen. Mit: „Long time no see!“ und zwei Bier. Sie setzen sich an einen Tisch unweit der Bar, und während ihre Freundin völlig untypisch sofort mit ihren Tischnachbarn spricht versucht sie, den Blicken des falschen Zwillings auszuweichen. Das Bier hilft ihr. Es macht sie biegsam wie Gras, ihr Körper tanzt um die Blicke, die er ihr schickt, herum.

Wird sie angesprochen, so behauptet sie ihr Name sei Cat und sie sei Französin, nein, ich spreche kein Englisch oder Deutsch, desolée. Als ihre Freundin ihre Drohung wahr macht und mit einem der Männer verschwindet bleibt ihr nur ein Betrunkener, den sie beobachtet und der allein in einer Ecke sitzt, mit konzentriertem Gesichtsausdruck ein Pint nach dem anderen leerend. Seine schulterlangen Haare kleben ihm im Mundwinkel und hängen in seinen Bartstoppeln, knapp unter der Krempe des ehemals weißen Cowboyhuts ziehen sich buschige Augenbrauen bei jedem Schluck streng zusammen und lassen ihn noch ein wenig wilder aussehen. Die schmutzigen Hände umklammern das Glas.

Sie sieht es nun auch: das Glas ist der einzige Gegenstand im Raum, der sich nicht dreht. Oder anders: der gesamte Raum dreht sich um dieses Glas. Sie widersteht der Versuchung, zu ihm zu gehen und ihre Hände auf die seinen zu legen um teilzuhaben an diesem einzigen Anker in ihrer Welt, vielleicht würde sie dann seine Augenfarbe sehen, bestimmt wären sie blau, denn dieser ganze Raum hier war schon lange nichts als Meer und ihre Augen, die den ganzen Abend nichts als bernsteinfarbene Flüssigkeit gesehen hatten, bettelten um etwas blaues, um etwas Wahrheit.
Kurz bevor sie aufstehen und zu ihm gehen kann finden ihre Finger ihren ganz persönlichen Anker in ihrer Tasche, ohne den sie nie aus dem Haus gehen würde: ein Buch. Die Buchstaben tanzen vor ihren Augen. Sie liest (Ce qui est perdu) und entlässt den Betrunkenen aus ihren Gedanken.


Seine Augen,
die nichts mehr halten,
tasten vielleicht gerade
meine Seele ab.

Ich liebe
sein ewig gleiches Lächeln,
ich liebe
die Möglichkeit: er als Mensch.

Seine fremden Hände,
die das Glas umklammert halten,
werden zu Vertrauten,
die jeden Winkel meines Körpers kennen.

Sein Körper, längst zu schwer
für seinen Willen,
wird mein
in der einsamen Gier
hinter meinen Pupillen.



Später: Heimkommen

Sie wird noch ein Glas Wasser trinken und über drei Stunden durch die nächtliche Stadt laufen.
(Einmal um die Frauenkirche, Richtung Sendlinger Tor, durch das Glockenbach, quer durch das Tal, die Maximiliansstraße, zum Friedensengel, über die Prinzregentenstraße – am Käfer kurz stehenbleiben, zum Prinzregentenplatz – vors Theater setzen, zurück zum Max Weber Platz, Wiener Platz – im nächtlichen geschlossenen Biergarten sitzen, dann heim.)

Sie wird nüchtern ankommen, mit zitternden Händen noch ein Glas Wasser trinken, dankbar, dankbar, dankbar, dass sie einem Mann mit Cowboyhut nicht auch eines anbieten muss. Sie wird sich schwören, nie wieder etwas anderes als ein Buch als Anker in ihre Leben zu lassen.

("Versprechen: 1) rechtlich die Zusage einer künftigen Leistung. Das V. wird erst durch die Annahme bindend (außer bei der Auslobung); 2) im Unterschied zu organisch bedingten Sprachfehlern ein oft als Fehlhandlung zu deutender Sprachfehler." Der große Brockhaus, Zwölfter Band, Sechzehnte Auflage, F. A. Brockhaus Wiesbaden, 1957).

Sie wird sich nicht glauben. (Allein schon, weil sie es satt hat, immer alles zweimal lesen zu müssen.)


Die Stille
konnte das Harte in mir
nicht zermahlen.

Der Alkohol
konnte das Schwere in mir
nicht auflösen.

Ich
kann nicht teilen,
doch wenn nichts hilft
will ich üben,
will ich es irgendwem
in zarte, blasse Hände legen,
Stück für Stück.
Mit meinem Kopf
müsste ich anfangen.

Am Ende
wird die Rastlosigkeit verblassen
und alles ohne Lieder enden.

Bis dahin
sammle ich meine Tränen
um mit ihnen
an langen Winterabenden
heiße Suppe
zu salzen.

Und vielleicht ist das
das Einzige,
was hilft.

Montag, 2. August 2010

Vom Fallen

Heute: Fallen

Sie liest die Nachricht. Sie antwortet. Sie macht sich direkt auf den Weg zu ihrer Freundin.
Wenig später sitzt sie ihr gegenüber, auf dem großen Himmelbett, und fährt ihr mit dem Daumen zärtlich um die geröteten Augenlider. Sonst berühren sie sich nicht (sie sind keine körperbetonten Menschen). Die Schluchzer der Freundin durchbrechen die Stille. Sonst sprechen sie nicht (sie sind keine redseligen Menschen).

Schließlich steht sie auf und geht zum DVD Regal. Lange steht sie davor. Pretty Woman, Tatsächlich Liebe, Frühstück bei Tiffany. Dann sagt sie: „Gib es zu, du willst diese Filme genauso wenig sehen wie ich, du freust dich nur über die seelischen Schäden, die du mir damit jedes Mal zufügst.“ „Ich habe nie etwas anderes behauptet. Außerdem haben wir beide was davon: ich vergesse über meine Schadenfreude für kurze Zeit meine Probleme, und du würdest nie erfahren, was Leid ist, wenn ich dich nicht hin und wieder daran erinnern würde.“

Sie wählt einige Liebesfilme, die sie weniger unerträglich findet als die anderen und schweigt dabei. Ihre Freundin musste seit Samstag Abend allein so dagesessen und geweint haben. Sie bewundert das. Die Schleusen öffnen und reißende Fluten fließen lassen, denkt sie. Sich für ein paar Stunden lang hinreißen lassen, in diesen Strom fallen und ertrinken. Und dann wieder auftauchen. Sie selbst kennt nur Rinnsale, Tropfen aus Quellen, die zum Bersten gefüllt sind und nie versiegen.

„Vier Hochzeiten und ein Todesfall, High Fidelity oder The Eternal Sunshine of the Spotless Mind?“
Ihre Freundin wählt letzteren.
„So schlimm?“ fragt sie, doch sie bekommt keine Antwort. Sie legt den Film ein, setzt sich wieder auf das Bett und legt nun doch den Arm um das Mädchen, das bereits bei der Vorschau wie hypnotisiert auf den Bildschirm starrt. Sie zieht es zu sich, die andere sinkt seufzend an ihre Schulter und murmelt: „Lass uns später noch weggehen, ja? Vielleicht mache ich es ja einfach mal wie du, betrinke mich und schlafe mit irgendwem.“

Sie zuckt zusammen bei diesen harten Worten doch sie lässt sich nichts anmerken. „Wie du möchtest. Eine von uns beiden muss ja den Ruf aufrechterhalten.“ „Stimmt, bei dir war es ziemlich ruhig in letzter Zeit.“
„Was soll ich sagen. Nice is good“, erwidert sie zeitgleich mit Jim Carrey.
Ihr Herz protestiert.




Damals: Aufstehen

Der Ire mit den grünen unschuldigen Kinderaugen hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass ihre Affäre vorüber war. Das hieß: er hatte alle ihre Anrufe ignoriert und tat so, als sähe er sie nicht, wenn sie sich über den Weg liefen. Sie hatte in Schottland schon weniger charmante Methoden zum Beenden einer Beziehung erlebt.

Die Frage war nur: wie hatte ihr bester Freund davon erfahren, und was machte er am Sonntag Nachmittag vor ihrer Tür? „Geht es dir gut?“ fragte er.

„Es ginge mir besser, wenn ich den Namen des Mannes in meinem Bett wüsste. Aber wart mal, vielleicht kennst du ihn ja? Magst du ihn dir kurz anschauen? Er schläft noch. Danach müsstest du allerdings gehen, ich will ihm den zweiten Mann in der Wohnung nicht erklären müssen.“

„Was ist mit dem Iren?“

„Was soll mit dem Iren sein?“


Seufzend las sie sich die mit Rechtschreibfehlern fast bis zur Unleserlichkeit gespickte SMS durch, die sie ihrem Freund allem Anschein nach Samstag Nacht geschickt hatte.


„Stimmt. Der Ire ist weg. Ich bin so froh dass ich dir regelmäßig erzähle, was in meinem Leben passiert, sonst würde ich die Hälfte einfach vergessen oder gar nicht erst mitbekommen.“


Ihr Freund lächelte nur und strich ihr über die struppigen Haare. „Immer schön vorsichtig, Kleine. Schmeiß den Unbekannten bald raus, ich hole dich um 7 zum Abendessen ab. Geht auf mich.“

Sie schloss die Tür hinter ihm und schwor sich, allen ihren Freunden so bald wie möglich zu sagen, dass sie sie liebte und brauchte ihnen für alles dankbar war, was sie sagten und was sie ungesagt ließen.


Bist du nicht auch manchmal traurig,

fragte sie
ohne mich anzusehen.

Es gibt keine Stelle in meinem Gesicht,
über die nicht schon einmal eine Träne lief,
keine Stelle an meinem Körper,
die nicht schon berührt worden wäre

Da sind die Spuren,
da sind die Atemzüge und Wimpernschläge,
da ist nichts mehr.

Willst du nicht auch manchmal fallen,
fragte sie,
wenn es nicht so viel schwerer wäre
als weiterzugehen.

Die Straße wird dein Freund,
laufe ihr entgegen und umarme sie
und vergiss nicht
dass die Hände, die sich nach dir ausstrecken,
nur an dieser Umarmung teilhaben wollen.

Und sie weinte.

Ich hielt sie
bis die Tränen wieder Spuren wurden
in meinen müden Armen,
die die Welt tragen,
die verhärten,
die sich nichts sehnlicher wünschen
als an dieser Umarmung teilzuhaben
und zu fallen.