Freitag, 6. August 2010

Was Hilft

Jetzt: Weggehen

Das neue Leben verschwimmt vor ihren Augen, mit jeden Schluck Bier wird es undeutlicher. Da ist wieder der Weichzeichner, der sich so gnädig über Lichter und Geräusche legt und ihr ein seliges Lächeln aufs Gesicht malt. Den sie so vermisst hat in ihrem neuen Leben. Den sie so gefürchtet hat in ihrem alten Leben.

("Sucht: das triebhafte, durch Vernunftgründe nicht einzudämmende Begehren, sich Lust zu verschaffen (Unlust zu vertreiben); das Bestreben, das Lusterlebnis zu wiederholen, sobald die Wirkung des vorangegangenen nachzulassen beginnt; die Neigung, diesem Lustgewinn den obersten Rang einzuräumen, ihm alle anderen Lebensziele unterzuordnen. Kein Mensch ist hiernach völlig frei von S." Der große Brockhaus, Elfter Band, Sechzehnte Auflage, F. A. Brockhaus Wiesbaden, 1957)

Sie ist noch nicht allzu betrunken, doch das Lächeln des falschen Zwillings ist ein Sog in dem schlecht beleuchteten Pub, sie fragt sich ob sich wohl gerade ihr Gesicht ablöst, ob ihre Augen zuerst geschluckt werden von diesem Strudel, ob er an ihren Haaren zieht und sie schließlich gänzlich einsaugt, Kopf voran –

„Welcher ist das?“ fragt ihre Freundin nun, und sie sagt nur: „Der Falsche.“ „Schade. Beziehungsweise egal. Der Richtige steht ja eh nicht auf dich. Und außer dir sieht keiner einen Unterschied zwischen den beiden.“

Prompt kommt er hinter der Bar hervor und auf die beiden Mädchen zu, um sie zu begrüßen. Mit: „Long time no see!“ und zwei Bier. Sie setzen sich an einen Tisch unweit der Bar, und während ihre Freundin völlig untypisch sofort mit ihren Tischnachbarn spricht versucht sie, den Blicken des falschen Zwillings auszuweichen. Das Bier hilft ihr. Es macht sie biegsam wie Gras, ihr Körper tanzt um die Blicke, die er ihr schickt, herum.

Wird sie angesprochen, so behauptet sie ihr Name sei Cat und sie sei Französin, nein, ich spreche kein Englisch oder Deutsch, desolée. Als ihre Freundin ihre Drohung wahr macht und mit einem der Männer verschwindet bleibt ihr nur ein Betrunkener, den sie beobachtet und der allein in einer Ecke sitzt, mit konzentriertem Gesichtsausdruck ein Pint nach dem anderen leerend. Seine schulterlangen Haare kleben ihm im Mundwinkel und hängen in seinen Bartstoppeln, knapp unter der Krempe des ehemals weißen Cowboyhuts ziehen sich buschige Augenbrauen bei jedem Schluck streng zusammen und lassen ihn noch ein wenig wilder aussehen. Die schmutzigen Hände umklammern das Glas.

Sie sieht es nun auch: das Glas ist der einzige Gegenstand im Raum, der sich nicht dreht. Oder anders: der gesamte Raum dreht sich um dieses Glas. Sie widersteht der Versuchung, zu ihm zu gehen und ihre Hände auf die seinen zu legen um teilzuhaben an diesem einzigen Anker in ihrer Welt, vielleicht würde sie dann seine Augenfarbe sehen, bestimmt wären sie blau, denn dieser ganze Raum hier war schon lange nichts als Meer und ihre Augen, die den ganzen Abend nichts als bernsteinfarbene Flüssigkeit gesehen hatten, bettelten um etwas blaues, um etwas Wahrheit.
Kurz bevor sie aufstehen und zu ihm gehen kann finden ihre Finger ihren ganz persönlichen Anker in ihrer Tasche, ohne den sie nie aus dem Haus gehen würde: ein Buch. Die Buchstaben tanzen vor ihren Augen. Sie liest (Ce qui est perdu) und entlässt den Betrunkenen aus ihren Gedanken.


Seine Augen,
die nichts mehr halten,
tasten vielleicht gerade
meine Seele ab.

Ich liebe
sein ewig gleiches Lächeln,
ich liebe
die Möglichkeit: er als Mensch.

Seine fremden Hände,
die das Glas umklammert halten,
werden zu Vertrauten,
die jeden Winkel meines Körpers kennen.

Sein Körper, längst zu schwer
für seinen Willen,
wird mein
in der einsamen Gier
hinter meinen Pupillen.



Später: Heimkommen

Sie wird noch ein Glas Wasser trinken und über drei Stunden durch die nächtliche Stadt laufen.
(Einmal um die Frauenkirche, Richtung Sendlinger Tor, durch das Glockenbach, quer durch das Tal, die Maximiliansstraße, zum Friedensengel, über die Prinzregentenstraße – am Käfer kurz stehenbleiben, zum Prinzregentenplatz – vors Theater setzen, zurück zum Max Weber Platz, Wiener Platz – im nächtlichen geschlossenen Biergarten sitzen, dann heim.)

Sie wird nüchtern ankommen, mit zitternden Händen noch ein Glas Wasser trinken, dankbar, dankbar, dankbar, dass sie einem Mann mit Cowboyhut nicht auch eines anbieten muss. Sie wird sich schwören, nie wieder etwas anderes als ein Buch als Anker in ihre Leben zu lassen.

("Versprechen: 1) rechtlich die Zusage einer künftigen Leistung. Das V. wird erst durch die Annahme bindend (außer bei der Auslobung); 2) im Unterschied zu organisch bedingten Sprachfehlern ein oft als Fehlhandlung zu deutender Sprachfehler." Der große Brockhaus, Zwölfter Band, Sechzehnte Auflage, F. A. Brockhaus Wiesbaden, 1957).

Sie wird sich nicht glauben. (Allein schon, weil sie es satt hat, immer alles zweimal lesen zu müssen.)


Die Stille
konnte das Harte in mir
nicht zermahlen.

Der Alkohol
konnte das Schwere in mir
nicht auflösen.

Ich
kann nicht teilen,
doch wenn nichts hilft
will ich üben,
will ich es irgendwem
in zarte, blasse Hände legen,
Stück für Stück.
Mit meinem Kopf
müsste ich anfangen.

Am Ende
wird die Rastlosigkeit verblassen
und alles ohne Lieder enden.

Bis dahin
sammle ich meine Tränen
um mit ihnen
an langen Winterabenden
heiße Suppe
zu salzen.

Und vielleicht ist das
das Einzige,
was hilft.

5 Kommentare:

  1. Die Gedichte in dem Text gefallen mir dieses Mal besonders gut!

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  2. Danke für deinen Kommentar, Juliet, und schön, dass die Gedichte dir gefallen. Es freut mich immer zu sehen, dass jemand meine Texte liest und mag.

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  3. wie schön die texte und gedichte sind...
    folge dir!

    grüße
    m

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  4. Deine Gedichte sind wirklich unglaublich gut, wie machst du das nur immer??

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  5. Fantasuloes, vielen Dank für dein Interesse und deinen Kommentar, ich versuche nicht paranoid zu werden.

    Müsli, wie immer: danke!

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