Jetzt: Senkung
Sie steigt aus dem Zug. Der Alltag hat sie schon am Gleis erwartet. Er stürzt auf sie zu. Er fällt ihr um den Hals. Er verbeißt sich in ihren Nacken.
Sie gehört nicht zu den Menschen, die nicht allein sein können. Im Gegenteil, Gesellschaft, vor allem die permanente Gesellschaft einer einzelnen Person, ist ihr oft lästig oder unangenehm. Doch gerade heute, auf dem Weg zu ihrer Wohnung wird ihr schwindelig bei der Aussicht auf einen ganzen Tag allein unter ihrer Glasglocke – knapp vierundzwanzig Stunden bevor sie wieder einer sinnvollen Beschäftigung, ihrer Arbeit, nachgehen und einigen völlig sinnfremden Unterhaltungen beitreten kann.
Die Wände der Glasglocke werfen Echos hin und her, der leere Raum wird zur Bühne für ihre Gedanken. Gedanken an ihr neues Leben, das innerhalb von wenigen Wochen zu ihrem alten Leben wurde. In dem sie verloren in einem Wald von Flaschen aller Art, Form und Farbe umherirrt und sich zitternd an Körpern wärmt. In dem es keine Moral, keine Werte gibt, die sie an der Hand nehmen und führen. In dem Nietzsche ihr zuflüstert, dass sie nichts falsch macht, nichts falsch machen kann.
Die Leere zwischen den Beinen ihres neuen Körpers wurde gefüllt. Sie hat sich in ihrem alten Leben verlaufen.
Zuhause angekommen öffnet sie einen Gedichtband von Carol Ann Duffy und einen Wein, den sie in Brügge gekauft hat. Sofort wird sie ruhiger. Wenn man Momente konservieren könnte, denkt sie. Zwischen Buchseiten gepresst oder in Alkohol eingelegt. Für die Ewigkeit.
Heute will ich
dir nur ganz sanft
die Hand auflegen
und dir zuflüstern
bis du mit einem Seufzer
und aufhörst zu schlagen
mein Herz
Heute war ein Regen
mein Herz
Mohnblumen starben
mein Herz
ich sah sie
mit ihren gebrochenen Hälsen
mit ihren zerfetzten Pergamentblüten
rote Feen mit verrenkten Gliedern
Vielleicht wird ein Regen kommen
der dich bleich wäscht
mein Herz
Heute will ich
dich ganz vorsichtig
in den Schlaf singen
und lächeln
weil du nicht einmal weißt
dass du einen Schatten hast
weil du dich erschrickst
vor diesem unbekannten Schatten
und wenn es still wird
lege ich dich zwischen
Buchseiten
mein Herz
ich bewahre dich
für immer
Damals: Hebung
Der Ire war bald vergessen. Es gab genug zu entdecken in ihrem Leben, das ohnehin zum Überlaufen gefüllt war mit Sonnenstrahlen, die sich in ihrem Wald von Flaschen aller Art, Form und Farbe verfingen und brachen und sie ins Unterholz lockten. In dem Nietzsche ihr zuflüstert, dass sie nichts falsch machte, nichts falsch machen konnte.
Es gab die Momente (die sie, ganz nebenbei, nicht konservieren wollte) in denen sie sich gedankenverloren an einer Glasscherbe schnitt. Die Momente, in denen ein Regen fiel wie der, in dem sie damals ihr Fahrrad heimgefahren hatte. Oder in denen die Musik gespielt wurde, die sie gehört hatte als sie sich nachts aus seiner Wohnung gestohlen und heim gelaufen war.
Doch diese Schnitte behandelte sie mit Rae Armantrout und sie heilten schnell. Und es ging weiter.
Lieben lieben lieben
durch die Nacht durch den Tag durch die Nacht
Schweißperlen
Schnecken
kriechen träge über meine Haut
trocknen
klebrige Spuren
Salzkristalle
Grabsteine
einer Leidenschaft
Am Ende
bleibt nur
ganz still und heimlich
das vergessene Fahrrad
abzuholen
und heimzufahren
im Regen
Leben leben leben
den nächsten Tag die nächste Nacht das und so weiter
Montag, 30. August 2010
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wiedermal einfach verdammt gut! wann bringst du einen gedichtband raus? grüße aus M.
AntwortenLöschenich liebe deine gedichte.
AntwortenLöschenich hab wieder eines in meinen blog miteinbezogen, natürlich mit verlinkung!
ich hoffe das ist dir recht ;-)
Herz, ich glaube niemand verlegt oder kauft Gedichte. Und das ist nur einer von vielen Fehlern dieser Welt. Grüße aus D.
AntwortenLöschenZimtstern, schön dass dir meine Gedichte gefallen und es freut mich noch mehr, wenn sie dich inspirieren, also solange die Verlinkung und somit der Urheber klar ist kannst du sie natürlich verwenden.
Bis bald
wunderschön.
AntwortenLöschenwunderschön :)
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