Damals: Verlieren
Der Wolf schlich sich aus ihrem Leben. (Das war erst vorgestern, doch es fühlt sich an wie eine Ewigkeit.)
Nachdem die letzten Tropfen ihres Blutes aufgeleckt, die letzten Tränen getrunken waren, verschwand er so ruhig und gelassen, wie er erschienen war. Sie saß fassungslos in dem zerwühlten Doppelbett, das sie in den letzten Tagen kaum verlassen hatte, und sah ihn stumm an.
Ihre geweiteten Pupillen sahen aus wie Bojen, die verloren im Meer tanzten, dachte er. Doch das sagte er nicht. Er sagte: „Ich komme am späten Nachmittag wieder. Bitte geh bis dahin.“
Deutsch ist eine harte Sprache, dachte sie. So konkret. So genau. Doch das sagte sie nicht. Sie sagte gar nichts. Sie verfolgte ihn mit ihren Augen, in denen Bojen tanzten, und nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, rissen sie sich los und schwammen davon.
Vierundzwanzig Stunden lang kreisten ihre einsamen Gedanken um die deutsche Sprache und um graue Wölfe. Sie aß zu wenig und trank zu viel. Dann sah sie in den Spiegel.
Von dort starrte sie ein abgemagertes Mädchen mit tiefschwarzen Ringen unter den Augen an. Sie sah genau hin. Doch da waren kein Engländer und kein Zwilling.
Der Wolf hatte sie alle gefressen.
Sie war allein.
Sie atmete tief ein, strich sich über die langen Haare, über die nackten Schultern, und zog sich für die Arbeit an.
Wie es sich anfühlt,
mit dem Abend allein zu sein
und sich langsam
sich selbst anzuvertrauen?
Du wirst lernen
wie eine Mango schmeckt,
wenn du sie ganz allein isst,
und Whisky,
wenn du ihn nicht
von fremden Lippen leckst.
Verbrenne alle Kerzen
und hüte dich
vor Spiegeln im Licht.
Nichts ist klarer und kälter
als eine einsame Nacht
nach Tagen
voller Ja
und Immer.
Am Ende sagen alle,
dass Ehrlichkeit
der blanke Wahnsinn ist
und du wirst dich fragen,
ob du nicht doch wieder
Lügen sammeln willst,
um dein Bett zu polstern,
denn du teilst es mit allen,
nur nie mit dem Schlaf.
Entzünde alle Kerzen
und schlafe mit deinem Spiegelbild.
So fühlt es sich an:
wie Kreise
im Nichts.
Heute: Finden
Am nächsten Morgen macht sie einen kurzen Anruf (Herzrasen), bucht einen Zug für denselben Tag und gibt ihrer Freundin Bescheid, dass sie für zwei Tage verreist. „Zu deinem Ehemann?“ fragt diese nur. Und sie antwortet: „Ich brauche ein bisschen Märchen.“
Sie packt, steigt in den Zug, steigt in Paris um, steigt aus. Es ist Abend.
Sie nimmt den Bus, die Schnellstraße (die nie vermuten lässt, dass man mitten hinein in ein Märchen fährt) entlang, die winzigen Gässchen und Kanäle hindurch.
Die Straßenbeleuchtung ist noch nicht an, es ist noch hell und sogar warm. Sie war noch nie im Sommer in Brügge gewesen.
An einem schmalen hohen beigen Haus hält sie an. Sie klingelt und nimmt die Treppe in den dritten Stock. Im Treppenhaus, dessen durchgetretene, knarzende Holzstufen ihr vertrauter sind als die in ihrem Haus in München, riecht sie es bereits: Muscheln.
Sie betritt die winzige Studentenwohnung als hätte es die letzten vier Monate nicht gegeben, fährt dem jungen Mann, der am Herd steht, durch die Haare, und wirft ihr Gepäck in eine Ecke. „So darling, make yourself at home and tell me all about him. The last time it was a silly little Englishman as far as I remember, how did that end?”
Sie lächelt. Wie viel schöner Englisch klingt, und noch dazu aus dem unbeholfenen Mund eines Belgiers. Ihres „Ehemanns“, wie ihre Freundin ihn nannte. Es ist wahr, dass er einer der wenigen Männer war, die sich über mehrere Jahre hinweg in ihrem Leben halten konnte, doch Sex hatten sie seit ihrer ersten überstürzten Nacht nie wieder gehabt. Einer der Gründe, warum sie stets zu ihm zurückkam, um sich zu erholen.
“First things first sweetheart, I’m absolutely starving but I’ll tell you everything after dinner.“
“As you wish”, antwortete er und sie musste ein Lachen unterdrücken.
Ein Tag in Brügge, ein Tag im Märchen, dachte sie, und schob alle Gedanken an München, die Arbeit, den Wolf, das Danach, von sich.
Ein Tag
in der doppelten Stadt
mit ihren goldenen Mauern
und ihren kristallenen Zwillingen
in den Kanälen
Ein Tag
im sanften Auf und Nieder der Wellen
du schläfst nicht
du bist nur betrunken
von all den Herzen
die du ausgesaugt hast
du schläfst nicht
du atmest all die Sprachen ein
die Zeit zählt hier nichts mehr
sie ist ein sanftes Auf und Nieder
dein Herzschlag zählt nichts mehr
deine Gedanken haben hier
kristallene Zwillinge
in den Kanälen
Das heilige Blut
läuft über deine Lippen
beim Lachen und Schluchzen
die Sprachen sitzen bequem
in deinen Lungen und Ohren
die Einsamkeit gibt es hier nicht mehr
sie versteckt sich hinter Spiegeln
in der doppelten Stadt
für einen Tag
Alle Augen hier deine alle
sind gold gold gold
und sie sehen
kristallklar
Samstag, 21. August 2010
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"Am Ende sagen alle,
AntwortenLöschendass Ehrlichkeit
der blanke Wahnsinn ist
und du wirst dich fragen,
ob du nicht doch wieder
Lügen sammeln willst,
um dein Bett zu polstern,
denn du teilst es mit allen,
nur nie mit dem Schlaf."
- <3
Ich habe deine Texte wirklich vermisst.
AntwortenLöschenUnd die Stelle die Yasemin oben rausgeschrieben hat, gefällt mir übrigens auch am Besten! :)